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Die AfD und ihre (rechts-)radikalen Gedankenspiele über Remigration

OGA vom13. März 2024 BRANDENBURG

Boba, Noor, Bahir und Said – Gedanken zum Rechtsruck

Migration

Viele Zuwanderer haben sich in Brandenburg über Jahre etwas aufgebaut. Die AfD-Debatte um sogenannte Remigration sorgt dafür, dass sie ihre Zukunft überdenken. Andere zeigen sich entschlossen.

Von Nancy Waldmann

Die Welle von Empörung, Protest und Großdemonstrationen gegen die im Januar bekannt gewordenen „Remigrationspläne“ von Rechtsextremen und Konservativen ist allmählich abgeebbt. Doch bei meinen Bekannten, die direkt davon betroffen wären – nicht-weiße Menschen, aus anderen Ländern Zugezogene, Geflüchtete, Leute, die binationale Familien gründeten – wirkt die Nachricht anders nach: Kaum jemand, der sich in den letzten Wochen nicht Gedanken über die eigene Sicherheit und Zukunft in Deutschland gemacht hat.

Worüber in Potsdam phantasiert wurde, hat sie meistens nicht überrascht. Aber doch den Glauben erschüttert – an ihre Wahlheimat, ihren Zufluchtsort, an alles, was sie sich hier aufgebaut haben. Sie fragen sich: Was sollte ich tun? In welches Land könnte ich gehen, wenn es schlimmer wird? In Brandenburg – und nicht nur hier – empfinden es viele als Risiko, öffentlich über die eigene rassistische Bedrohung zu sprechen. Viele Namen sind deswegen geändert.

Gespräche am Gartenzaun zeigen: Nachbarn sympathisieren mit der AfD.

Eine Freundin in Thüringen macht sich Sorgen, wie lange ihr afghanischer Partner und ihr gemeinsamer sechsjähriger Sohn noch sicher sind, wenn die Stimmung auf der Straße noch feindseliger wird. „Man sollte nicht erst gehen, wenn auch alle anderen auf der Flucht sind“, sagt sie. Im Internet hat sie geschaut, ob sie und ihr Mann in Großbritannien in ihren Berufen arbeiten könnten. „Da gibt es viele wie uns“, sagt sie. Aber mit einer vernünftigen Arbeit würde es schwer.

Eine polnische Kollegin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt, überlegt, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft nun beantragen soll – oder besser nicht. 2023 noch wollte sie das unter anderem deswegen tun, weil in ihrem Heimatland die rechtspopulistische PiS-Regierung fest im Sattel saß und immer mal mit einem „Polexit“ spielte.

Nun fragt sie sich, ob sie sich vor einer eventuellen „Remigrationsoffensive” in Deutschland mit einem deutschen Pass absichern kann. Oder ob sie dann lieber gleich nach Polen zurückgeht, wie es viele in ihrem Umfeld jetzt in Erwägung ziehen. „Sogar meinem deutschen Mann hat es einen Ruck gegeben. Er hält nicht mehr für ausgeschlossen, dass man eventuell irgendwann gehen muss“, sagt sie.

Weggehen ist keine Option

Eine will sich übers Weggehen oder einen Plan B keine Gedanken machen: Boba Preuß Bojčić. Sie besteht drauf, dass ihr voller Name genannt wird. „Ich lass mich doch nicht in irgendeine Schublade stecken und einschüchtern“, sagt sie. Boba, Anfang 40, Mutter von zwei Kindern und Unternehmerin mit einem guten Dutzend Angestellten in Frankfurt (Oder), erlebte als Kind den Krieg in Jugoslawien und verließ mit 18 ihre Heimat.

Nach den Correctiv-Enthüllungen wollte sie, dass es eine Demo in ihrer Stadt gibt und trieb die Organisation mit voran. Sie achtet sehr darauf, mit wem in der Stadt sie sich abgibt. „Ich bin Serbin und komme aus Kroatien, ich bin es gewohnt, als der Arsch zu gelten, wenn man in der Minderheit ist“, sagt sie. Notfalls würde sie nach Serbien gehen. Zur Demonstration gegen rechts in Frankfurt kamen auch einige nicht-weiße Migranten. Aber es waren viel weniger, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht.

Nach Brandenburg kamen die meisten Menschen mit Migrationsbiografie erst in den zurückliegenden zehn Jahren. Davor lebten hier gerade mal einige zehntausend Personen ohne deutschen Pass. Mit der Flüchtlingsbewegung 2015/16 und dem Wachstum Berlins hat die Mark erst begonnen, internationaler und zu einem Ort für Zuzügler zu werden. Im deutschlandweiten Vergleich ist Brandenburg immer noch das Land der „Kartoffeln“ (eine humorvolle Bezeichnung für einheimische Deutsche). Kaum halb so viele Ausländer wie im Bundesdurchschnitt leben hier: 196.000 – sieben Prozent. Die, die sich hier ihr Leben aufbauten, das Rechtsextreme nun in Frage stellen, gehören einer Generation von Pionieren an, deren Zukunft gerade in Frage gestellt wurde.

Noor studierte Internationale Menschenrechte und Humanitäres Völkerrecht an der Viadrina, arbeitete und engagiert sich in Frankfurt (Oder). Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie in einer ostbrandenburgischen Kleinstadt, im eigenen Haus. Der Kontakt zu den Nachbarn ist gut. Wobei sie festgestellt hat, dass nicht wenige mit der AfD sympathisieren, die in der Gegend häufig Veranstaltungen organisiert.

Viele im Ort hätten Angst vor Ausländern. Es bräuchte Möglichkeiten, darüber zu reden, glaubt Noor. Schon manches Mal war sie schockiert, wenn sie auf Social-Media-Plattformen Äußerungen von Menschen entdeckte, die sie zuvor in echt kennengelernt hatte. „Zur mir sind die Leute lieb und nett, für sie bin ich die ‚gute Migrantin‘, die Ausnahme“, sagt Noor. Bestimmte Themen meide sie aber in Gesprächen mit Nachbarn, zum Beispiel ihre Arbeit mit Geflüchteten – einfach, um sich nicht zu oft zu ärgern, erklärt sie.

Denn ärgerliche Situationen erlebt sie auch so. Zuletzt beim Arzt. Sie berichtet, wie eine Arzthelferin ihr Dinge mit Händen und Füßen erklärt habe und sich wunderte, dass sie von links nach rechts schreiben könne. Dabei spricht Noor fließend und verständlich Deutsch.

Die „Remigrationspläne“? Noor kann Rechtsnormen aufzählen, gegen die sie verstoßen. Doch dann kommmentiert sie trocken: „In einen ‚Musterstaat‘ nach Nordafrika wollen sie uns bringen? Na, da ist es wenigstens warm!“

Was Noor trifft, ist, dass ihr die Frage ‚Woher kommst du?‘ immer wieder gestellt wird, und dass ihre Antwort darauf: ‚aus Frankfurt‘ mit Blick auf ihre Haut- oder Augenfarbe nicht akzeptiert werde. Dann hakten die Menschen nach, woher sie „wirklich“ komme. Das ist nicht so leicht zu beantworten, denn Noors Familie zog um die halbe Welt. „Die Frage kann ehrlich gemeint sein. Sie unterstreicht aber immer aufs Neue, dass man nicht dazu gehört“, stellt sie fest.

Trotzdem, Noor ist überzeugt, dass Gespräche – „viele und regelmäßige“ – der Weg sind, den man gehen muss, um Vorurteile zu überwinden und Ängste zu verstehen. „Ich glaube an das Gute im Menschen und an die Kraft der Vielfalt. Und das glauben viele. Aber Demos sind nur ein Anfang“, sagt Noor.

Bahir und Said kennen das. Dazugehören in Brandenburg – auf dieses Ziel haben sie beide mit aller Kraft hingearbeitet – jeder mit seiner eigenen Strategie. Die Staatsbürgerschaft, für die jeder dachte, mehr als alles Erforderliche getan zu haben, wird für sie aber einfach nicht greifbar.

Die beiden Männer um die 30 kennen sich nicht, obgleich beide als Geflüchtete aus Afghanistan 2015 bzw. 2016 kamen und in Frankfurt (Oder) landeten. Bahir suchte sich deutsche Freunde, mied andere Afghanen und entwickelte sich rasch zum Musterschüler: Ausbildung als einziger Ausländer in der Berufsschulklasse, Abitur, Arbeit und berufsbegleitendes Studium, eigenes Auto. Theater spielte er, jetzt unterrichtet er im Nebenjob Polen in Deutsch.

Said wiederum engagierte sich lange am interkulturellen Treffpunkt, wurde zum Brückenbauer zwischen migrantischer und einheimischer Community in der Stadt. Er war in der Kommunalpolitik aktiv, erfuhr dort auch Gegenwind von der AfD. Bis heute kommen viele Landsleute auf ihn zu und fragen um Rat. Mit der Ausbildung lief es nicht, wie Said sich wünschte, Ablehnung spürte er dort. Aber eine Lehre hat er nun in der Tasche, den Führerschein auch und er verdient sein eigenes Geld. Vor einiger Zeit ist er nach Berlin gezogen.

Nach Berlin wollte unbedingt auch Bahir, doch fand er keine Wohnung. So blieb er in Brandenburg, arbeitete sogar in einer Führungsposition. Seine Arbeitskollegen kommen aus verschiedenen Ländern, erzählt Bahir, wobei die Einheimischen eine Art Wand gegenüber den Migranten errichten würden. ‚Wir Deutschen und ihr Ausländer‘ – so redeten sie, so verhielten sie sich. Von Zuwanderern fühlten sie sich bedroht und schauten auf sie von oben herab. „Die Atmosphäre ist beschissen“, sagt Bahir. Das ist ein Grund, warum er den Job nicht mehr machen will.

Als die „Remigrationspläne“ der Rechtsextremen bekannt wurden, verlor niemand von Bahirs Arbeitskollegen darüber ein Wort. Dann ploppte das Thema doch auf: Als sich ein Unternehmen aus der Stadt gegen Rassismus positionierte, hätten sich die beiden einheimischen Arbeitskollegen davon bedroht gefühlt, erzählt Bahir.

Die Frage, die ihn ebenso wie Said fast zerfrisst, ist älter als das Rechtsextremistentreffen. Es hat sie nur existentieller gemacht: Die Einbürgerung – die ultimative Anerkennung ihres Wegs in die deutsche Gesellschaft. Bahir hat sie vor Jahren beantragt. Was er noch tun müsse, um die Zweifel der Behörden auszuräumen, darüber werde er stets im Unklaren gelassen, klagt er. „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an dieses Thema denke. Jeden Tag gucke ich in diesen scheiß Briefkasten, in der Hoffnung, dass die Behörde mir endlich eine Antwort schickt! Ich muss das endlich abschließen.“

Angst, gehen zu müssen

Said musste vor einiger Zeit erfahren, dass sein eigentlich vorteilhafter Status ihm die Einbürgerung verwehrt. Eine bittere Erkenntnis für ihn, die seine Vorstellung von der eigenen Zukunft durchkreuzte. Verzweifelt sucht er nach einem Ausweg, der sich nicht auftun will. Ursprünglich verband Said die Staatsbürgerschaft mit der Möglichkeit, in die Politik zu gehen, für seine Partei bei einer Parlamentswahl zu kandidieren – endlich ein Bürger dieses Landes zu werden, statt nur Gast. Aber ohne Pass kann Said nicht einmal wählen.

Jetzt denkt er mehr an eine Bleibegarantie. Ohne deutschen Pass hat er Angst, dass er einer der ersten wäre, die gehen müssten. „Wenn die AfD noch mehr Einfluss nimmt auf die Politik, dann brauche ich den deutschen Pass als Sicherheit“, sagt Said.

Bahir, der auch überlegt, sich in einer Partei zu engagieren, sagt: „Wenn die AfD kommt und sagt ‚Ausländer raus‘, dann werde ich gleich die EU verlassen. Würde es in Kanada, USA oder Australien versuchen. Die können mich doch nicht abweisen“, sagt er. Wie sich die Situation dort entwickelt, ist allerdings unklar. Klar ist, dass Brandenburg die besten Leute verloren gehen, wenn die, die im letzten Jahrzehnt hier Fuß gefasst haben, sich gezwungen sehen, anderswo ein zweites Mal von null anzufangen.

Hilfe für das Frauenhaus Oranienburg

OGA vom 13. März 2024 TITELSEITE

Eine Million Euro für den Schutz vor Gewalt

Hilfe

Alexander Tönnies hat im Rahmen der Reihe „Landrat vor Ort“ das Frauenhaus besucht und übergab einen Scheck für die weitere Arbeit.

Von Redaktion

Mit rund einer Million Euro unterstützt der Landkreis Oberhavel das Frauenhaus in Oranienburg. Landrat Alexander Tönnies übergab den symbolischen Scheck an Anja Rebbert-Schröder, Vorstandsvorsitzende des Märkischen Sozialvereins (MSV), der Träger des Frauenhauses ist. Darüber informiert die Verwaltung in einer Pressemitteilung.

Den MSV besuchten Alexander Tönnies und WInTO-Geschäftsführerin Claudia Flick in der Reihe „Landrat vor Ort“ gemeinsam mit Oranienburgs Bürgermeister Alexander Laesicke. Zweite Station war dann die Beratungsstelle der Verbraucherzentrale Brandenburg in der Kreisstadt.

Das Team arbeitet seit Jahren mit viel Engagement für die Frauen.

Seit 1991 ist der Märkische Sozialverein im Landkreis Oberhavel in vielen sozialen Belangen aktiv. Als anerkannte Fachstelle für Frauenberatung und Träger des Frauenhauses Oberhavel gibt der Verein Opfern von häuslicher Gewalt, Schutz und Sicherheit. „Die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses entwickeln gemeinsam mit den Betroffenen Perspektiven für ein selbstständiges und gewaltfreies Leben. Es ist beeindruckend, mit wie viel Engagement das Team seit vielen Jahren für die Frauen da ist“, sagte Alexander Tönnies nach dem Treffen.

„Dazu gehört viel persönliche Stärke und Kraft. Die Arbeit des Teams unterstützen wir, so gut wir können. Darüber hinaus ist der Märkische Sozialverein für Menschen mit ganz verschiedenen Problemen da. Jede Altersgruppe erfährt hier Hilfe, wenn sie gebraucht wird. Auch viele dieser wichtigen Angebote unterstützt der Kreis finanziell.“

Der MSV ist Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe mit Einrichtungen in Oranienburg und bietet zusätzlich Einzelfallhilfen und Schulbegleitungen an. Als anerkannter Betreuungsverein beschäftigt er fünf Vereinsbetreuerinnen und -betreuer, begleitet ehrenamtlich Engagierte und klärt über Patientenverfügung, Vorsorge und rechtliche Betreuung auf.

Der MSV ist auch Anlaufstelle für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Er koordiniert einen Helferkreis, der Betroffene und deren Familien stundenweise unterstützt. Mehr als 80 Männer und Frauen sind jedes Jahr rund 14.000 Stunden für an Demenz Erkrankte und ihre Familien da. Auch Menschen, die mit einer Behinderung leben, und deren Familien hilft der MSV dabei, ihre Lebensplanung nach eigenen Vorstellungen in die Hand zu nehmen.

85 Selbsthilfegruppen innerhalb der Selbsthilfe-, Kontakt- und Informationsstelle (SEKIS) unter dem Dach des MSV sind wichtige Orte des Austausches bei diversen Krankheitsbildern, die oft mit Beeinträchtigungen in der gesellschaftlichen Teilhabe, mit psychischen Erkrankungen und sozialen Problemen verbunden sind. Rehabilitationssport und Funktionstraining gehören ebenfalls zum Angebot.

Der Märkische Sozialverein ist anerkannte Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle im Kreis. Es werden Veranstaltungen in Schulen und bei Bildungsträgern durchgeführt, um der jungen Generation bereits den vorsichtigen Umgang mit Geld, Verträgen und Finanzen nahezubringen, so heißt es in der Mitteilung der Pressestelle weiter.

Die neueste Projektidee des MSV soll gegen Kinderarmut helfen. Gelder aus dem Förderprogramm „Stark vor Ort: Soziale Integration von armutsbedrohten Kindern und ihren Familien“ des Sozialministeriums sind beantragt. In Absprache mit dem Jugendamt wurde ein Konzept entwickelt, um die Schuldnerberatung auszubauen. Es geht um Prävention. Familien und Kinder werden dabei unterstützt, ihr Leben ohne Überschuldung zuführen, indem sie über Verbraucherrechte und Finanzstrategien aufgeklärt werden.

Verbraucherberatung

Verbraucherrechte standen auch im Mittelpunkt der zweiten Station der „Landrat vor Ort“-Tour, der Verbraucherberatungsstelle in Oranienburg. Leiterin Martina Roggenkamp und die Chefin des Regionalzentrums, Sylvia Schönke, begrüßten Tönnies und Flick in den Räumen an der Albert-Buchmann-Straße.

Wie versucht wird, die Gesellschaft zu spalten – ein Erklärungsversuch

OGA vom 12. März 2024 POLITIK

„Die Spaltung wird von oben hineingetragen“

Steffen Mau 

Es gebe nach wie vor eine breite Mitte im Land, sagt der Berliner Soziologe. Auch wenn „Polarisierungsunternehmer“ wie Hubert Aiwanger und Julian Reichelt versuchten, die Gesellschaft auseinanderzudividieren. Was die Menschen triggert – und warum das auch gute Folgen haben kann.

Von Igor Steinle

Er ist der momentan gefragteste Sozialwissenschaftler Deutschlands. Politiker zitieren Steffen Maus Thesen, unzählige Interviewanfragen erreichen ihn täglich, selbst die Bundesregierung hat ihn nach Meseberg eingeladen, um seine auf umfangreichen Datenerhebungen basierende Gesellschaftsanalyse zu hören. Weniger mondän geht es in seinem Büro in Berlin-Mitte zu: Auf dem Tisch stapeln sich Bücher, draußen rattert die S-Bahn vorbei, während Mau uns an einem dunklen Februarabend zwischen E-Mail-Arbeit und Studierendensprechstunde empfängt.

Herr Mau, Tausende Menschen gehen auf die Straße, um gegen Rechts zu demonstrieren. Ist die Demokratie in Gefahr?

Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt.

Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet.

Ich halte das eher für Übertreibung. Wir haben eine stabile Demokratie, die Demonstrationen zeigen ja, dass es eine breite gesellschaftliche Mehrheit gibt, die bereit ist, sie zu verteidigen.

Das entspricht Ihrer zentralen These, dass wir keine gespaltene Gesellschaft sind.

Hier ist eine Mehrheit sichtbar geworden, die sonst eher still ist. Die Mitte ist politisch passiv, sie bildet sich zwar ihre Meinungen, aber tritt nicht öffentlich in Erscheinung. Wir sehen auf der Straße und in den sozialen Medien sonst eher einen radikalisierten Rand, vor allem einen rechten Rand, mit sehr zugespitzten und oft extremen Positionen. Die konnten für sich reklamieren, so etwas wie eine schweigende Mehrheit zu repräsentieren. Und jetzt haben sich die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse öffentlich artikuliert.

Bisher dachte man, die gesellschaftliche Spaltung spiegele sich in der Politik wider.

Nach unseren Beobachtungen ist das nicht der Fall, die Gesellschaft ist nicht gespalten, vielmehr gibt es politische Akteure, wir nennen sie Polarisierungs­unternehmer, die Interesse daran haben, Spaltung zu erzeugen und dann zu bewirtschaften. Die Spaltung wird eher von oben in die Gesellschaft hineingetragen.

Wer sind solche Unternehmer?

Es gibt viele, in der AfD zum Beispiel. Hubert Aiwanger ist auch einer, er pflegt einen spalterischen Diskurs, indem er trennt zwischen denen mit gesundem Menschenverstand und den anderen, die keine Ahnung vom wirklichen Leben haben: die in den Großstädten gegen uns, die wir uns auf dem Land auskennen. Und natürlich gibt es sie auch im medialen Diskurs, Julian Reichelt zum Beispiel ist ein Polarisierungsunternehmer.

Sie haben Triggerpunkte der Gesellschaft ausgemacht, Themen, die sich besonders zur Polarisierung eignen. Welche sind das?

Es gibt rechte und linke Triggerpunkte, aber viel mehr rechte, weil eine gewisse Ressentimentkultur sehr stark über Trigger funktioniert. Das sind vor allem Themen, die sich leicht emotionalisieren lassen. Man kennt das aus dem eigenen Umfeld, es gibt Fragen, da kann man sich mit Freunden oder Familienmitgliedern hinsetzen und sachlich verhandeln und andere, wo man weiß, da geht dem ein oder anderen schnell die Hutschnur hoch. Gendern zum Beispiel, die Heizungsfrage, das Tempolimit, arabische Messerstecher und so weiter.

Dabei ist die Gesellschaft in den vergangenen Jahren über alle Schichten hinweg liberaler geworden. Wie passt das zusammen?

Es geht um Gleich- oder Ungleich­behandlung, wenn man das Gefühl hat, dass bestimmte Gruppen jetzt bevorzugt werden sollen. Die Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Beispiel ist in der gesamten Gesellschaft groß. Aber wenn man das Thema politisiert und sagt, Minderheiten sollen bei Einstellungen bevorzugt werden, dann gehen viele auf die Barrikaden. Auch Verhaltenszumutungen sind ein starker Trigger, zum Beispiel in der Sprache, wenn man den Leuten das Gefühl gibt, ihr müsst jetzt gender­gerecht sprechen.

Warum triggern Themen wie ungleiche Einkommensverteilung nicht?

Die Menschen glauben an Leistungsgerechtigkeit. Es herrscht die Meinung vor, dass die soziale Stellung im Großen und Ganzen nach Leistung und Talent verteilt wird. Dieser Glaube ist auch stark in der Arbeiterschaft verwurzelt, längst nicht mehr nur bei Spitzenverdienern. Reichtum wird nur dann skandalisiert, wenn man das Gefühl hat, dass er unverdient ist oder unmoralische Dinge damit gemacht werden. Der Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt, sondern auf einer horizontalen Ebene, etwa zwischen Einheimischen und Geflüchteten oder Leuten im Niedriglohnsektor und Menschen mit Transfereinkommen. Das sieht man auch daran, dass die größten Vorbehalte gegen die Erhöhung des Bürgergeldes von Leuten mit kleinem Portemonnaie kommen.

Wovon hängt die Triggerbereitschaft ab?

Es sind vor allem Menschen in unteren sozialen Hierarchiepositionen, die in ihrem beruflichen Umfeld wenig Autonomie haben, sozusagen Befehlsempfänger sind, und dann im privaten Bereich Wert auf Autonomie legen. Die sagen: Ich habe in meinem beruflichen Umfeld so wenig Freiheiten, dafür will ich in meiner Freizeit grillen, was ich will, und auf der Autobahn so schnell fahren, wie ich will. Diese privaten Autonomieansprüche sind eine Art Kompensation für fehlende Autonomie im Arbeitskontext.

Sorgt nicht auch der gesellschaftliche Wandel für Überforderung?

Ja, wir nennen das Veränderungserschöpfung: Viele Leute haben das Gefühl, sie kommen nicht mehr mit. Ständig finden Umwertungsprozesse statt, man muss sich permanent umgewöhnen. Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet. Je weiter unten man sitzt, desto mehr hat man das Gefühl, der soziale Wandel überrollt mich. Das muss man bedenken, wenn man Reformprojekte in die Gesellschaft hineinbringt.

Haben solche Triggerpunkte die Politik bereits maßgeblich beeinflusst?

Ja, das bekannteste Beispiel ist sicher Armin Laschets Lachen am Rande der Katastrophe im Ahrtal. In der alten politischen Ordnung, als es noch Stammwähler gab, hätten die das vielleicht nicht gut gefunden, aber sie wären nicht gleich zu einer anderen Partei gelaufen. Heute hat es die CDU wohl ein paar Prozentpunkte und womöglich die Kanzlerschaft gekostet. Ein global einflussreicher Trigger war die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA. Natürlich wussten die Menschen schon vorher, dass es Rassismus gibt, aber das „Ich kann nicht mehr atmen“ hatte eine so kraftvolle Symbolik, dass es weltweit mobilisiert hat. Solche Trigger sind nötig, um Menschen auf die Straße zu bringen.

Reagieren die Demos gegen rechts dann nicht auch auf einen Auslöser?

Auf jeden Fall, die Leute haben schon vorher geahnt, was die AfD im Schilde führen könnte. Die Berichterstattung über dieses Potsdamer Treffen, auch der Ereignischarakter der Veröffentlichung, hat dann aber starke emotionale Reaktionen ausgelöst und die Menschen mobilisiert.

Wenn Polarisierungsunternehmer beharrlich die Konflikte im Land beackern, steuern wir dann nicht dennoch auf eine gespaltene Gesellschaft wie in den USA zu, wo die Lager kaum noch miteinander sprechen können?

Möglicherweise. Triggerpunkte sind so etwas wie Einstiegsfenster in eine gespaltene Gesellschaft. Die allermeisten Leute haben keine Ahnung von Parteiprogrammen, sondern ein diffuses Verhältnis zur Politik und zugleich ausgeprägte Vorstellungen von richtig und falsch. Das Politische ist für sie eine Art Nebelwand. Da sitzen viele Leute in kleinen Booten, und die Polarisierungsunternehmer blinken mit ihren Triggerpunkten, die wie Positionslichter im Nebel funktionieren. Dann heißt es hier Gendern, dort Messerstecher und da Lastenfahrrad und die Boote bewegen sich dorthin, wo ihre Leute sind. Wenn sich der Nebel dann lichtet, ist die Flotte plötzlich in zwei Gruppen aufgeteilt, die ein ganzes Stück Abstand voneinander haben.

Bieten Triggerpunkte dann nicht auch Orientierung? Beispiel Gendersprache: Wenn 60 bis 80 Prozent der Menschen sagen, sie fühlen sich bevormundet, ist es dann nicht demokratisch, das aufzugreifen?

Das eine wäre, das Thema mitzubearbeiten. Das andere ist, es in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, wie es etwa der ehemalige CDU-Chef in Hamburg, Christoph Ploß, gemacht hat, der das Thema rund um die Uhr bespielte. Natürlich ist es verlockend, aus dem Kulturkampf Honig zu saugen. Aber wer solche Themen zu intensiv beackert, feuert Konflikte an, die eigentlich nachrangig sind.

Menschen lassen sich auch deshalb leicht triggern, weil sie erregbarer geworden sind. Warum ist die Republik nervös geworden?

Das hat sicher damit zu tun, dass die Leute nur eine begrenzte Verarbeitungskapazität für Veränderungen haben. Durch die Digitalisierung in der Arbeitswelt muss man sich ständig neu justieren, dann kommt die Migration, dann Corona, dann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Man kann nicht unbegrenzt viel Veränderung in einer Biografie verarbeiten. Gerade im Osten ist die Veränderungserschöpfung deshalb noch größer als in Westdeutschland. Viele Leute treten auf die Bremse und wollen an dem festhalten, was ist.

Welche Rolle spielt der Vertrauensverlust in die Institutionen?

Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität. Warum setzen wir uns ins Auto und fahren los, ohne vorher unter die Motorhaube zu schauen? Weil wir darauf vertrauen, dass die Ingenieure das Auto so konstruiert haben, dass es funktioniert. Wenn wir anfangen, unter die Motorhaube zu schauen, haben wir kein Vertrauen mehr in die Firma, die das Auto herstellt. In der Politik wird inzwischen unter die Motorhaube geschaut.

Weil der Staat oft dysfunktional erscheint?

Vor 20 Jahren ist man ins Ausland gefahren und hat gesehen, wie gut in Deutschland eigentlich alles funktioniert. Heute kommt man zurück und stellt fest, hier funktioniert immer weniger. Und damit meine ich nicht nur die Bürgerämter in Berlin. Wenn Kinder ihr eigenes Klopapier in die Schule bringen müssen oder nach einem Todesfall in der Familie wochenlang die Krematoriumsplätze ausgebucht sind, dann fallen selbst Wohlmeinende irgendwann vom Glauben ab.

Triggern bestimmte Themen Sie auch?

Absolut. Gerade Aiwanger und sein Umgang mit diesem Flugblatt, das hat mich schon extrem geärgert. Gar nicht, dass er das als Jugendlicher gemacht hat, sondern dass er so nonchalant und ohne Problembewusstsein darüber hinweggegangen ist. Das war für mich ein Trigger. Auch, weil er bei der nächsten Wahl dafür auch noch Zuspruch erhalten hat.

Was raten Sie der Politik, wie man der Spaltung entkommen kann?

Ich mache eher die sozialwissenschaftliche Analyse und keine Politikberatung im engeren Sinne. Die Schlussfolgerungen muss die Politik selbst ziehen.

Kindheit im Plattenbau

Steffen Mau (Jahrgang 1969), gebürtig aus Rostock, wuchs als Sohn einer Ärztin und eines Abteilungsleiters im Schiffbau in einem Plattenbauviertel auf. Nach einer Lehre im VEB Schiffselektronik Rostock verzichtete Mau auf den ihm zugewiesenen Studienplatz in Mathematik und Physik. Erst nach der Wende studierte er seine Wunschfächer Soziologie und Politik an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 ist er Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität.  Sein Herkunftsviertel und die ostdeutsche Transformationsgesellschaft porträtierte der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler 2017 in „Lütten Klein“. Zuletzt erschien das hoch gelobte Buch „Triggerpunkte“  bei Suhrkamp.

Sind das noch Bauern, oder doch schon Terroristen?

OGA vom 07. März 2024 BRANDENBURG

Fahrt zur Arbeit endet im Misthaufen

Bauern-Protest

Ivo Boban will zur Nachtschicht, als er auf der dunklen B5 bei Elstal in eine Barriere rast. Landwirte hatten sie ohne Ankündigung errichtet. Ein Abschleppunternehmer berichtet von Morddrohung.

Von Manja Wilde

Der Mist klebt noch am grauen Opel Insignia. Das Auto steht auf dem Hof des Abschleppdienstes Grabow in Nauen. Der Wagen hat einen Totalschaden, seit er mit einem Tempo von 70 bis 80 Kilometern pro Stunde gegen einen Misthaufen raste. Das war am Sonntag gegen 21.50 Uhr auf der Bundesstraße B5 bei Elstal, wo Bauern aus Protest gegen die Politik der Bundesregierung eine Barriere errichtet hatten.

Am Steuer des Wagens sitzt Ivo Boban, neben ihm seine Frau. Beide wollen zur Nachtschicht. „In Wustermark war die B5 gesperrt. Die Polizei hat uns rausgewunken, wir sollten die Umleitung nehmen“, schildert der 63-Jährige. Der Wagen folgt den anderen Autos. „Bei Karls Erdbeerhof konnten wir wieder auf die B5. Da war nichts gesperrt. Ich habe beschleunigt und bin 400 Meter weiter in den Misthaufen gefahren“, berichtet Ivo Boban. Etwa 1,20 Meter sei das Hindernis an der Stelle hoch gewesen. „Der hatte die gleiche Farbe wie der Asphalt, den hat man erst zehn Meter vorher gesehen“, sagt Boban. Zu spät zum Abbremsen. Der Wagen rast auf den harten Berg, landet dahinter wieder auf den Rädern, schlittert durch glitschige Gülle und kommt 50 Meter weiter an der Leitplanke zum Stehen. Beide Airbags schnellen hervor. Doch auf Rettungswagen und Polizei müssen die Verletzten nach Bobans Worten lange warten. „Sie sind einfach nicht durchgekommen.“

Das ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Das hat mit Politik nichts zu tun.

Michael Grabow Abschleppunternehmer

Die Situation ist aufgeheizt. Das bekommt auch das Abschleppunternehmen Grabow zu spüren, das Unfall-Autos aus dem Mist zieht und einen Traktor umsetzt. „Die haben gedroht, uns unseren Laden abzubrennen, Morddrohungen gab es auch“, berichtet Michael Grabow. „Natürlich haben wir eine Anzeige gemacht“, betont er. Über das Internet und per Telefon seien die Drohungen eingegangen.

„Was die ordentlichen Bauern bei ihren Protestaktionen gut gemacht haben, haben diese Leute kaputtgemacht“, sagt Michael Grabow. „Das ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Das hat mit Politik nichts zu tun“, ergänzt er. Das Unternehmen, das sein Sohn führt, sei bereits seit dem Jahr 2018 der Vertragsabschleppdienst der Polizei. Die Verträge, die nach den europaweiten Ausschreibungen geschlossen worden seien, müssten eingehalten werden, unterstreicht er.

Die Blockade dauerte in etwa von Sonntag, 22 Uhr, bis Montag, 15.30 Uhr, teilt Dustin Neumann, Sprecher der Polizeidirektion West, mit. Es habe mehrere Unfälle mit insgesamt fünf Verletzten gegeben. Zu Spitzenzeiten hätten insgesamt 22 Fahrzeuge in beiden Fahrtrichtungen an der Blockade mitgewirkt. Wie viele Einsatzkräfte der Polizei vor Ort waren, teilte der Sprecher auf Nachfrage nicht mit. Ob bereits weitere Protest-Veranstaltungen angemeldet oder bekannt sind, ebenfalls nicht. „Das überlassen wir dem Veranstalter. Wir veröffentlichen das nicht, damit es nicht später heißt, es sind nur so viele Leute gekommen, weil die Polizei Ort und Zeit bekannt gegeben hat“, erklärt er.

In der Blockade-Nacht haben Polizisten laut Neumann mehrere Anzeigen aufgenommen: „Wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht und eine Nötigungsanzeige bezüglich des Abschleppunternehmens“.

„Der Einsatz ist heute noch Thema bei uns“, sagt Jürgen Scholz, der Gemeindewehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Wustermark. Als die Kameraden Hilfe leisten wollten, standen die Traktoren im Weg, berichtet Scholz. „Es gab keine Rettungsgasse, der Einsatzleiter musste die Landwirte bitten, beiseite zu fahren“, schildert er. Erst ein „kleines Wortgefecht“ und eine in Richtung Einsatzleiter fliegende Kaffeetasse später habe die Wehr passieren können.

Jürgen Scholz hebt jedoch auch hervor, dass am Dienstag Henrik Wendorff, der Präsident des Landesbauernverbandes, bei ihm angerufen habe, um sich zu entschuldigen und sich zu distanzieren. Scholz betont zudem, dass frühere Aktionen von Bauern aus der Region stets angemeldet gewesen seien.

„Das ganze Internet ist voll von Aufrufen ohne Absender und ohne Veranstalter“, kritisiert Wendorff. „Das ist alles nicht seriös, wir raten ab, darauf zu reagieren“, sagt er. Von der Aktion auf der B5 habe er gar nichts gewusst. Der Landesbauernverband habe schon seit zwei Wochen keine öffentlichen Protestaktionen mehr gemacht, stattdessen viele Gespräche geführt. Ihn ärgere es, dass eine kleine Gruppe von „Demonstrations-Touristen in Traktoren mit Wohnanhängern“, solche Bemühungen torpediere.

Schlimme Erinnerung geweckt

Für Ivo Boban ist es unerheblich, von wo die Landwirte kamen, die die Barrieren errichtet haben. Er kann seit dem Horror-Crash nicht mehr schlafen. Längst verdrängte Bilder brechen wieder hervor. „Vor drei Jahren sind wir zufällig in einen Unfall geraten. Ein Ehepaar saß in dem Auto. Die Frau ist in meinen Armen gestorben. Der Mann hat immerzu gejammert und nach seiner Frau gefragt“, berichtet der 63-Jährige.

Diese Erinnerungen lassen die eigenen Schmerzen, den Druck auf dem Brustkorb, die Rennerei wegen des kaputten Autos und die anderen Unannehmlichkeiten etwas in den Hintergrund treten.

Kneipenfest in Oranienburg am 23.03.2024

OGA vom 06. März 2024 OBERHAVEL

Neue Locations und Bands

Musik

Das Kneipenfest feiert 2024 in Oranienburg seine 16. Auflage. Neun Bars und Restaurants beteiligen sich, darunter einige zum ersten Mal. Alle Infos zu den Orten, Bands und Bus-Verbindungen.

Von Marco Winkler

Während der Corona-Pandemie wurde aus der Kneipennacht das Kneipenfest. Drei Jahre musste die Veranstaltung pausieren, um sich 2023 zwar nicht neu zu erfinden, aber zumindest wieder aufzuerstehen. 2024 wird die 16. Auflage des Kneipenfestes gefeiert – mit neuen Akteuren und Lokalen. Alle wichtigen Informationen im Überblick.

Das Oranienburger Kneipenfest findet am Sonnabend, 23. März, statt. In insgesamt neun Locations gibt es Live-Musik zwischen 20 und 2 Uhr. Neu dabei ist erstmals das Kulturhaus Friedrich Wolf in Lehnitz sowie die Altstadtklause unter dem neuen Betreiber Adrian Wittstock. Das Sportlerheim des Oranienburger FC Eintracht – ehemals „Zum Anstoß“ – beteiligt sich ebenfalls erstmals unter neuem Namen („OranienHeimat“) und mit neuen Betreibern.

Vom Goove Eric Claptons bis zur Partyband für alle Fälle.

Ticket-Preise und Bus-Shuttle

Das Motto der Kneipen-Tour mit Live-Musik ist gleichgeblieben: „Nur einmal bezahlen – überall dabei sein!“ Die Karte kostet 15 Euro und ist ab 19 Uhr in allen teilnehmenden Lokalen erhältlich. Das Tickt gilt nicht nur für sämtliche Veranstaltungsorte, sondern auch für den extra eingerichteten Bus-Shuttle, der zwischen 20 und 2 Uhr sämtliche Lokalitäten im 15-Minuten-Takt ansteuert. Erstmals gilt wieder ein Sonderfahrplan.

Veranstalter Thomas Schmidt von der „Kneipenfestagentur“ bewirbt die Live-Performances auf seiner Seite wie folgt:

Altstadtklause, Havelstraße 16 Band: Hiatus Filler, Beschreibung: „Druckvolle Mittelaltermugge mit dem Trio Hiatus Filler, bestehend aus Bramboris, Tatzus und Motte.“

Café Sport Live, Mittelstraße 15 CATlooovSKYYY, Beschreibung: „Ein Musikerpärchen mit großer Spielfreude und der Liebe zu grooviger und tanzbarer Musik. Es wird ein Menü aus Schlagern und Titeln der Soul-, Disco- und Pop-Ära der 70er- über die 80er-Jahre bis in die heutige Zeit serviert.“

Gaststätte Weidengarten, Adolf-Mertens-Straße 13 Jürgen Gehrhardt & The TB Session Band, Beschreibung: „Die TB-Session-Band hat sich den Rock- und Bluesklassikern verschrieben und interpretiert die Songs im eigenen Stil. Es entsteht eine Mischung aus der Ruhe von J.J. Cale, aus dem Groove von Eric Clapton, aus der Gelassenheit von Joe Cocker und dem Wahnsinn der Stones.“

Kulturhaus Friedrich Wolf Lehnitz, Friedrich-Wolf-Straße 31 TOR11, Beschreibung: „Drei gestandene Männer, bei denen man das Gefühl hat, dass sie nie erwachsen werden wollen. TOR11 aus Potsdam spielt viel Deutschrock, gewürzt mit aktueller Partymusik und Oldies. Tanzen, singen und feiern sind garantiert.“

Milchbar, Bernauer Straße 62 Whiskey Milk & Water, Beschreibung: „Echte Vollblutmusiker, bei denen nicht allein die Musik, sondern auch die Leidenschaft und der Spaß zählen! Das Publikum kann sich auf eine musikalische Bandbreite von kräftigem Blues und ‚leichter Kost‘ hin zu rockigen Stücken und vielen Oldies freuen.“

OranienHeimat, André-Pican-Straße 41A

Silverlakeband, Beschreibung: „Die vier Musiker feiern mit ihrem Publikum eine tolle Rock-Show. Hier gibt es Songs von Oasis, Lindenberg, Depeche Mode, Foo Fighters und und und. Eine Band mit Wiedererkennungswert!

Oranjehus, Clara-Zetkin-Straße 31 (als Festival innerhalb des Festivals mit drei Live-Acts angedacht) Insane – Aggi & Paul, Beschreibung: „Von Rock, Pop, Schlager über NDW, mal laut, mal leise, emotional, rockig oder gefühlvoll.“ Dominic Merten, „Multi-Instrumentalist und Sänger, interpretiert mit Gitarre, Mikrofon und LoopStation eigene Songs und Coverversionen.“ Repolished, „Klassiker und aktuelle Songs in modernem, rockigem und tanzbarem Sound. Ihre eigenen Songs sind dem Alternative-Rock und Pop-Punk zuzuordnen.“

Restaurant & Pension Sonnenburg, Robert-Koch-Straße 67

Hot Cantina, Beschreibung: „Mandy am Schlagzeug, Kuddel an der Rhythmusgitarre, Armin an der Leadgitarre und Steven am Kontrabass sind Hot Cantina aus Oberhavel. Die genreübergreifenden Songs reichen von Country über Rock bis hin zu Blues und Schlager, dabei werden diese in einem ganz eigenen Stil gecovert, welcher durch den Kontrabass charakterisiert wird.“

Schweizer Haus, Brieseweg The Wilbury Clan, Beschreibung: „Zu alt für Techno – zu jung für Volksmusik? Dann sind Sie bei The Wilbury Clan genau richtig! Stellen Sie sich eine Mischung zwischen Boss Hoss, den Ärzten, Santiano und Smokie vor – gemixt mit Eigenem und Spaßrock. Kurzum: Die Partyband für alle Fälle!“

Bus-Shuttle – alle Haltestellen

2024 gibt es einen festen Fahrplan, die Bustour startet um 19.45 Uhr am Bahnhof Oranienburg

Busse fahren im 15-Minuten-Takt

Shuttle ist im Ticket-Preis inbegriffen

Die Haltestellen: Bahnhof Oranienburg (Milchbar, Café Sport Live), Chausseestraße/McDonalds (Weidengarten), Clara-Zetkin-Straße/gegenüber vom Oranjehus, Havelstraße (Altstadtklause), Robert-Koch-Straße (Sonnenburg), Friedrich-Wolf-Straße Lehnitz/Kreisverkehr (Kulturhaus), Brieseweg (Schweizer Haus), André-Pican-Straße (OranienHeimat), Bahnhof Oranienburg

 Der letzte Bus fährt um 1.15 Uhr am Bahnhof ab.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen (3)?

OGA vom 29. Februar 2024 ORANIENBURG

CDU will Arbeitspflicht für Flüchtlinge

Migration

Im Landkreis Elbe-Elster gibt es bereits Erfahrungen mit Einsätzen in Heimen.

Von Ulrich Thiessen

Potsdam. Der brandenburgische CDU-Chef Jan Redmann spricht sich dafür aus, im ganzen Land Asylbewerber zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten. Im entsprechenden Bundesgesetz ist dies für einige Stunden pro Tag bei einer Aufwandsentschädigung von 80 Cent je Stunde vorgesehen.

Im thüringischen Saale-Orla-Kreis haben entsprechende Pläne für Schlagzeilen gesorgt. Dabei gibt es bereits Erfahrungen in Brandenburg, im Landkreis Elbe-Elster. Dort können die Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften beim Sozialamt entsprechende Anträge stellen.

Laut Auskunft eines Sprechers der Verwaltung sind für drei Gemeinschaftsunterkünfte und einen Wohnverband 103 Plätze beantragt worden. Aktuell sind 70 Bewohner zu entsprechenden Einsätzen verpflichtet. Allerdings ist der Versuch aufgegeben worden, Asylbewerber auch außerhalb der Heime zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten.

Vom Deutschen Landkreistag wurde inzwischen die Forderung laut, die Gemeinnützigkeit aus dem Gesetz zu streichen. Damit könnten Asylbewerber auch in der Wirtschaft eingesetzt werden.

Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) sprach von einer Schein­debatte, die das Bild von arbeitsscheuen Flüchtlingen transportieren solle. Es müsse vielmehr darum gehen, Geflüchtete schnell in reguläre Arbeit zu bringen, erklärte sie.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen (2)?

OGA vom 29. Februar 2024 POLITIK

Forderung nach Arbeitspflicht über Gemeinnützigkeit hinaus

Geflüchtete

Immer mehr Menschen bitten um Aufnahme in Europa. Über die Frage, wer von ihnen arbeiten darf oder muss, ist eine neue Debatte entbrannt. Hintergrund ist ein Vorstoß der Kommunen.

Von André Bochow

Berlin. 1,14 Millionen Menschen haben 2023 in der EU einen Asylantrag gestellt. Das geht aus dem Jahresbericht der EU-Asylagentur (EUAA) hervor. Gegenüber dem Vorjahr war das ein Anstieg um 22 Prozent. Fast ein Drittel der gestellten Anträge, nämlich 334.000, nahm Deutschland entgegen. Doch Europa hatte 2023 noch mehr Herausforderungen zu bewältigen. „Denn rund 4,4 Millionen Vertriebene aus der Ukraine erhalten ebenfalls vorübergehenden Schutz“, heißt es bei der EUAA. Nachdem immer wieder über die niedrige Beschäftigungsquote von Ukrainern hierzulande diskutiert wurde, rücken derzeit wieder Asylbewerber und Geduldete in den Blickpunkt. Schon im vergangenen Herbst forderten die Ministerpräsidenten der Bundesländer eine Arbeitspflicht für Geflüchtete.

Nun legte der Deutsche Landkreistag nach. Sein Chef Reinhard Sager verlangte in der „Bild“ die Ausdehnung der Arbeitspflicht über gemeinnützige Tätigkeiten hinaus. Die Bundesregierung möge auch eine Verpflichtung zur Arbeit in privaten Unternehmen ermöglichen. „Die finanzielle Unterstützung vom Staat darf nicht bedingungslos sein“, sagte Sager.

Im Asylbewerberleistungs­gesetz heißt es: „Arbeitsfähige, nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, sind zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet“. Pro Stunde gibt es für die entsprechenden gemeinnützigen Tätigkeiten 80 Cent, Verweigerung wird finanziell sanktioniert. In der Praxis wird von der Möglichkeit selten Gebrauch gemacht.

Deswegen erregt nun ein Vorstoß aus dem Saale-Orla-Kreis die Gemüter. Bekannt wurde der Landkreis durch den knappen Ausgang der Landratswahl im Januar. Christian Herrgott (CDU) schlug dabei den AfD-Bewerber Uwe Thrum. Herrgott will nun Asylbewerber zu täglich vier Stunden Arbeit verpflichten. Zunächst werde gemeinnützige Arbeit für Freiwillige angeboten. „Die Geflüchteten sollen selbst davon profitieren, dass sie eine sinnstiftende Tätigkeit haben, die ihnen den Alltag strukturiert“, sagte ein Sprecher des Kreises.

Nicht alle dürfen arbeiten

Kritik an dem Vorgehen kommt aus allen Richtungen. Der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer hält die Maßnahmen für „rein homöopathisch“. Dagegen moniert Linkspartei-Chefin Janine Wissler, der Zwang zur Arbeit sei „menschenunwürdig“ und „Lohndumping“. Thüringens Integrationsministerin Doreen Denstädt (Grüne) wirft dem Landrat vor, das „falsche Narrativ von den arbeitsscheuen Geflüchteten“ zu bedienen. Dabei würden die meisten arbeiten wollen, scheiterten aber an Arbeitsverboten und Bürokratie. Tatsächlich dürfen Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts und in der Zeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung nicht regulär arbeiten. Auch Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten bekommen keine Arbeitserlaubnis.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen?

OGA vom 29. Februar 2024 BRANDENBURG

Arbeiten für 80 Cent pro Stunde

Flüchtlinge

Ein Landkreis in Thüringen startet mit einer Arbeitspflicht für Asylbewerber. Im Süden Brandenburgs wird das bereits praktiziert. Wie sieht es in anderen Regionen der Mark aus?

Von Ulrich Thiessen

Der Saale-Orla-Kreis in Thüringen machte zu Beginn des Jahres Schlagzeilen, als ein CDU-Kandidat sich in der Stichwahl nur äußerst knapp gegen einen AfD-Politiker behaupten konnte. Nun macht der neue Landrat, Christian Herrgott (CDU), bundesweite Schlagzeilen mit der Initiative, Asylbewerber zu Arbeitseinsätzen einzusetzen.

Für vier Stunden am Tag sollen sie Flächen rund um Gemeinschaftsunterkünfte pflegen. Die ersten Arbeitseinsätze laufen auf Freiwilligenbasis, theoretisch wären aber auch Verpflichtungen und Leistungskürzungen bei einer Weigerung möglich.

Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen, wurde schon versucht.

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür gibt es schon lange. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht dafür eine Aufwandsentschädigung von 80 Cent je Stunde vor. Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, geht nun einen Schritt weiter. Gegenüber „Bild“ sprach er sich dafür aus, die Arbeitspflicht nicht nur auf gemeinnützige Tätigkeiten zu beschränken, sondern Asylbewerber auch in der Wirtschaft einzusetzen. Gegenüber dem „Spiegel“ nannte er die Gastronomie als Einsatzfeld. Dazu müsste jedoch das entsprechende Bundesgesetz geändert werden.

Olaf Schöpe, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Brandenburg, kann sich verpflichtete Asylbewerber in seinem Gewerbe nicht vorstellen. Wenn, dann sollten Einzelne die Möglichkeit bekommen, ein Praktikum zu machen, um dann angelernt und integriert zu werden.

Sind dann verpflichtende gemeinnützige Arbeitseinsätze auch in Brandenburg zu erwarten? Jan Redmann, CDU-Landesvorsitzender, verspricht sich von solchen Maßnahmen einen doppelten Effekt. „Zum einen können wir das Miteinander von Einheimischen und Geflüchteten in unseren Kommunen verbessern. Zum anderen würde eine sinnstiftende Aufgabe Geflüchteten helfen, ihren Alltag besser zu strukturieren“ argumentiert Redmann. Außerdem sei es von Vorteil beim Spracherwerb. Der Christdemokrat verweist auf den Landkreis Elbe-Elster, wo sein Parteifreund Christian Jaschinski als Landrat bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt habe.

Das, was im Saale-Orla-Kreis jetzt mit viel Aufmerksamkeit bedacht wird, ist im Süden Brandenburgs geübte Praxis. Torsten Hoffgaard, Sprecher der Kreisverwaltung von Elbe-Elster berichtet, dass die Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften beim Sozialamt einen Antrag stellen und dann entsprechende Vereinbarungen eingehen. So wurden für die Gemeinschaftsunterkunft Hohenleipisch 24 Bewohner zu Arbeitseinsätzen verpflichtet. In Doberlug-Kirchhain sind es 30 und in Elsterwerda 2.

Hoffgaard berichtet, dass es 2021 auch den Versuch gab, Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen. Es habe teilweise keine Akzeptanz an den geplanten Arbeitsorten gegeben, teilweise wurde Widerspruch gegen die Arbeit eingelegt oder es wurden Arbeitsunfähigkeitsschreiben vorgelegt. Letztlich, so der Sprecher, habe sich der Aufwand nicht gelohnt.

Daniel Kurth (SPD), Landrat im Barnim und stellvertretender Vorsitzender des Landkreistages kann sich so etwas in seinem Kreis nicht vorstellen. Ziel müsse es sein, Flüchtlinge so schnell wie möglich in reguläre Arbeit zu bringen, bei der sie auch eigenes Geld verdienen. Einsätze zum Straßenfegen und in Parks würden nur wie in den 90ern wieder zu Debatten führen, dass Flüchtlinge den angestammten Mitarbeitern die Arbeit wegnehmen.

Karina Dörk (CDU) Landrätin der Uckermark, hat ebenfalls Vorbehalte, Asylbewerber zur Arbeitseinsätzen zu verpflichten. Man solle sich da nicht eine Gruppe an Leistungsbeziehern herausgreifen. Wenn, dann sollte das Thema breiter diskutiert werden. Auch in Brandenburg an der Havel gibt es keine Pläne, Flüchtlinge zu Arbeitseinsätzen zu verpflichten, heißt es aus dem Rathaus der Domstadt.

Gernot Schmidt (SPD), Landrat von Märkisch-Oderland, will sich nicht an einer solchen Debatte beteiligen. Sein Landkreis konzentriert sich als erster in Brandenburg auf die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber in Brandenburg. Schmidt befürchtet, dass es bei einer Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit in einzelnen Kreisen und eventuellen Sanktionen dazu kommt, dass die Betroffenen hin- und herziehen und viele in die Illegalität nach Berlin abwandern, wo seiner Kenntnis nach schon heute viele schwarz arbeiten.

Hilfskräfte beim Waldumbau?

Sozial- und Integrationsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) warnt derweil vor einer Diskussion zur Arbeitspflicht, die nur die falsche These von „arbeitsscheuen“ Geflüchteten transportieren würde, wie sie betont. „Wir brauchen keine Scheindebatten, sondern endlich einen echten Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Geflüchtete müssen schneller und unbürokratischer Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Und wir brauchen noch mehr Unternehmen, die Asylsuchende und Geduldete beschäftigten“, erklärte Nonnemacher.

In diesem Zusammenhang hat Barnims Landrat Daniel Kurth einen Vorschlag. Er verweist auf den hohen Arbeitskräftebedarf beim Waldumbau. Er könnte sich vorstellen, Asylbewerber als Hilfskräfte auf diesem Gebiet einzusetzen, wo das Land ohnehin nicht ausreichend Waldarbeiter einsetzen kann. Dann, so Kurth, aber nicht zwangsverpflichtet für 80 Cent die Stunde, sondern mit einem Lohn, der sie von Leistungsbezügen unabhängig macht.

Asylsuchende und Flüchtlinge in Brandenburg

OGA vom 27. Februar 2024 BRANDENBURG

Zugewandert wird vor allem im Speckgürtel

Migration

In Brandenburg leben derzeit so viele Ausländer wie nie zuvor. Es sind nicht nur Flüchtlinge. Menschen kommen auch, um hier zu studieren oder zu arbeiten. Nicht wenige zahlen Steuern.

Von Janine Reinschmidt

Noch nie haben so viele Menschen aus dem Ausland in Brandenburg ein neues Zuhause gefunden. Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hat sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Brandenburg von knapp 88.000 auf 198.000 (31. März 2023) mehr als verdoppelt. Aktuell beträgt der Ausländerteil in Brandenburg rund sieben Prozent.

Im bundesweiten Vergleich sind zwischen Havel, Spree und Oder dennoch wenige Ausländer registriert. Nordrhein-Westfalen liegt mit über drei Millionen Ausländern, das sind 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf Platz 1. Die wenigsten Zugezogenen aus dem Ausland, knapp 116.000, verzeichnet hat das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Das entspricht einem Ausländeranteil von 6,5 Prozent.

Mit der Nähe von größeren Städten verbindet sich die Hoffung auf Arbeit.

Dass sich das Zusammenleben im Alltag schwierig gestaltet, weiß Doris Lemmermeier, Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg. Warum ist das so?

Probleme entstünden unter anderem in Alltagssituationen. Ein Klassiker sei die Begegnung an der Supermarktkasse mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen. Kopfschütteln oder genervte Kommentare wie „Können die kein Deutsch?“ seien keine Seltenheit. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung, die stattfindet.

Für die Zugezogenen, die sich integrieren wollen, mangelt es aber zum Teil an Sprachkursangeboten. Hier trage die Politik Schuld. „Vor allem Menschen, die auf dem Land leben, sind benachteiligt“, erklärt Doris Lemmermeier. Dort seien die Angebote spärlich.

Ein weiteres Problem sieht sie im Umgang mit dem Begriff „Ausländer“. Viele setzen den Begriff Ausländer mit Flüchtlingen oder Asylbewerbern gleich. Dabei haben lediglich 30 Prozent der Ausländer in Brandenburg einen Flüchtlingsstatus.

Eine mangelhafte Integration hängt nicht nur von fehlenden Sprachkursen ab. Sie liegt oft in vielen bürokratischen Hürden begründet. Etwa der Anerkennung der Abschlüsse oder die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, die für die Aufnahme einer Arbeit Voraussetzung ist. Dass eine unbürokratische Integration in den deutschen Arbeitsmarkt theoretisch möglich sein kann, zeigt der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine. Tausende Schutzsuchende sind in den vergangenen zwei Jahren aus der Ukraine nach Brandenburg gekommen. Ihnen wurde, anders als bei Flüchtlingen gewöhnlich, ein direkter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt.

Doch es ist nicht immer die Flucht vor einem Krieg, einer humanitären Katastrophe oder einer Verfolgung, die Menschen zwingt, ihr Land zu verlassen. In Brandenburg leben eben auch die, die zum Studieren oder Arbeiten hergekommen sind. Letzteres betreffe vor allem die polnische Bevölkerung. „Entgegen dem Stereotyp zahlen viele Ausländer Steuern und die meisten Flüchtlinge wollen so schnell wie möglich arbeiten, dürfen es aber oft nicht“, sagt Doris Lemmermeier.

Zudem denkt die Integrationsbeauftragte auch an jene, die Deutschland wieder verlassen. Das bedauere sie. „Wir sind auf Zuwanderung im Land angewiesen“ – gerade im Hinblick auf den anhaltenden Fachkräftemangel. Nach Angaben des IHK- „Fachkräfte Monitor Brandenburg“ wird die Zahl der fehlenden Fachkräfte von 56.000 (Stand 2019) auf 90.000 (berechnet für das Jahr 2030) steigen.

Wie aber gehen die Ämter und Behörden mit dem stetigen Anstieg der Zugezogenen aus dem Ausland um? Kommen die Ausländerbehörden an ihre Grenzen? Kora Kutschbach, Pressesprecherin der Stadt Frankfurt (Oder), berichtet, dass die steigende Zahl ausländischer Menschen spürbar sei. Von einer Überforderung könne aber keine Rede sein. Um dem Anstieg der Ausländerzahl personell gerecht zu werden, habe die Stadtverwaltung entschieden, eine weitere Stelle in der Ausländerbehörde einzurichten.

Juliane Güldner, Pressesprecherin der Stadt Potsdam, teilt mit, dass die Ausländerbehörde stark belastet sei. Dies wirke sich auf Kunden und Mitarbeitende aus. „Betroffene müssen sich auf Terminvorlaufzeiten von bis zu drei Monaten sowie längere Bearbeitungszeiten bei der Prüfung von Aufenthalts- und Erwerbsrechten einstellen.“

Dass gerade Großstädte von einem enormen Anstieg Zugezogener aus dem Ausland betroffen sind, ist nach Ansicht von Doris Lemmermeier kein Zufall. Die Nähe zur Stadt sei bei der Wohnortswahl entscheidend. „Die Menschen erhoffen sich dort einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt“, erklärt sie.

Weniger Zugezogene am Rande

Mit fast 25.000 Zugezogenen aus dem Ausland (Stand 31. August 2023) hat Potsdam die meisten Ausländer. Dicht gefolgt von der Stadt Cottbus und vom Landkreis Oder-Spree. „Als Grund anzunehmen ist dafür der Sitz der Zentrale Ausländerbehörde (ZABH) in Eisenhüttenstadt“, sagt Doris Lemmermeier. Die Randgebiete in Brandenburg, wie etwa der Landkreis Elbe-Elster (3775 Ausländer) oder die Prignitz (4910 Ausländer) verzeichnen die wenigsten Zugezogenen.

Weiterhin zeigt sich, dass der Speckgürtel bei Ausländern attraktiv ist. Er bietet neben einer raschen Stadtanbindung in Richtung Berlin und Potsdam Ruhe und Erholung im Grünen.

Unterschied zwischen Asylsuchenden und Flüchtlingen

Asylsuchende suchen Schutz vor unter anderem politischer Verfolgung nach Art. 16a GG oder suchen internationalen Schutz nach der entsprechenden Richtlinie der EU. Die Gewährung des Asylstatus führt zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Demnach sind Flüchtlinge ausländische Personen, die bereits einen Status erhalten haben. Das Asylverfahren ist abgeschlossen. Entscheidend für den Flüchtlingsstatus ist jedoch, dass eine Verfolgung nachgewiesen werden kann.

Der rechtliche Unterschied führt zu unterschiedlichen festgelegten Behandlungen, Leistungen und Ansprüchen.

Kampagnen der AfD und warum diese gerade im Osten fruchten…?

OGA vom 23. Februar 2024 BRANDENBURG

Sprüche, Strategien,Stimmenfang

Wahlkampf

Welche AfD-Losungen ziehen bei Wählern und was läuft falsch bei anderen Parteien in Deutschland? Ein Gespräch über politische Kommunikation mit Berater Mathias Richel.

Von Nancy Waldmann

Mathias Richel stammt aus Frankfurt (Oder) und berät Verbände, Organisationen, Marken und Parteien bei ihrer Kommunikation. Mehrere Wahlkämpfe für die SPD hat er begleitet. Er spricht darüber, was an den Kampagnen der AfD clever ist und warum die Regierenden den Rücken gerade machen sollten.

Herr Richel, über die Kampagnen der AfD haben Sie gesagt, dass die gut gemacht sind. Warum ziehen die?

Sie treffen das Stimmungsbild vieler Menschen. In diesen konfusen Zeiten eint uns eine große Überforderung, die bis ins Private hineinreicht. Seit der Pandemie haben wir Krisen, die direkt unsere eigene Lebenswelt betreffen: der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die steigenden Energiekosten, der Klimawandel. Die Leute entwickeln da ein großes Ohnmachtsgefühl, weil sie daran nichts ändern, egal wie sehr sie arbeiten und sich anstrengen. Das sorgt für große Unsicherheit. Früher galt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern besser geht als mir‘. Heute gilt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern wenigstens noch so gut geht wie mir‘. Das zeigt die immense Werteverschiebung. Wenn die AfD dann verspricht „Deutschland, aber normal“, dann lockt sie die Menschen in eine Nostalgiefalle.

Nach dem Motto „früher war alles besser“. Dabei war ja gerade in Brandenburg, wo Sie aufgewachsen sind, vieles früher gerade nicht besser.

Ich glaube, es geht um Vereinfachung. Um ein Zurück in die alte Zeit – das verspricht Klarheit, bekannte und geordnete Verhältnisse. Was trennt uns davon? Klar: Migration, Feminismus, LGBTQ, veränderte Sprache – das erzählt die AfD und das ist hochwirksam. Weil sie verspricht, dass es in der Vergangenheit Sicherheit gibt. Aber dahin können wir nicht zurück.

„Deutschland, aber normal“ war die Losung zur Bundestagswahl 2021. Ein Teil der aktuellen Krisen kam jedoch erst danach.

Ja, seitdem hat sich die Stimmung, die zu solch einer Kampagne führt, verstärkt. Seitdem kam der Ukraine-Krieg dazu, die Energieknappheit. Der Wunsch ist größer geworden, all das Schwierige, das daraus folgt, aufzulösen. Die AfD zieht diese Kampagne aus dem damaligen Wahlkampf auch in ihrer jetzigen Wortwahl weiter durch.

Hätten sich andere Parteien etwas abgucken können von der AfD-Kampagne?

Bloß nicht, man sollte nicht AfD-Debatten nachspringen. Ich glaube auch nicht, dass man den harten Wählerkern der AfD zurückholt. Aber trotzdem hätten die anderen Parteien etwas anders machen müssen. Man darf nicht über die Komplexität und das Belastungsgefühl hinaus selbst noch belastend wirken.

Heißt das, man sollte als Politiker nicht darüber sprechen, was man Bürgern abverlangt?

Die Kommunikation der Ampel-Parteien ist schlecht, und zwar deshalb, weil man immer das Gefühl hat, sie wollen noch mehr belasten. Sie argumentieren mit Zahlen und Zielen, die für viele Menschen außerhalb ihrer Lebenserwartung liegen. Zu Hause brennt es, das Geld zerrinnt mir zwischen den Fingern und da soll ich meine Ölheizung rausreißen, damit in 25 Jahren nicht ein Klima-Kipppunkt erreicht wird – so kommt das in etwa an. In Politik und medialer Debatte wurde diese Überforderung nicht ernst genommen. Die Politik kann die Komplexität zwar nicht auflösen, muss diese aber vielmehr erklären.

Wie könnte denn die Kommunikation über Klimaziele am Küchentisch konkret aussehen? Wirtschaft und Konsum klimaneutral zu machen, wird wahrscheinlich nicht ohne Einbußen gehen.

So blöd es klingen mag, aber die Fragen, die beantwortet werden müssen, sind: ‚Was habe ich davon? Was macht das mit meinem Kontostand?‘ Wir haben einen sehr abgenutzten Begriff von Solidarität. Zum Beispiel Solidarität mit nachfolgenden Generationen – das bedeutet für viele erstmal: ‚Es kostet mich was‘. Das mag egoistisch sein, aber das ist legitim, denn es geht ja um hart erarbeitetes Geld, das da in die Zukunft investiert werden soll.

Ist ‚Zukunft‘ nicht ein unattraktiver Begriff geworden, den man eher meiden sollte?

Man muss sogar mit der Zukunft argumentieren. Auch wenn es das nicht einfacher macht. Diese Zukunft muss erreichbar und praktikabel sein. Und die Rechnung für die Ölheizung ist ganz einfach: Was kostet es mich, die noch 27 Jahre weiterzubetreiben und wie viel kriege ich gefördert vom Staat, wenn ich sie jetzt ersetze. Politik muss das erklären. Leute der Wirtschaft sind dazu nicht in der Lage, die müssen schon weiter sein, um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Bei der Landtagswahl 2019 hatte die AfD auf ihren Plakaten „Vollende die Wende!“ stehen. Auch ein gelungener Slogan aus Werbersicht?

Ich denke, diese Kampagne legte ein völlig falsches Bild von der „Wende“ zugrunde. Die Ostdeutschen werden von den Westdeutschen immer für die friedliche Revolution gefeiert, dabei stand die Mehrheit von ihnen hinter der Gardine und hat abgewartet, was passiert. Auf den Straßen war nur eine Minderheit. Die eigentliche Leistung der Ostdeutschen war es, die 1990er-Jahre durchzustehen, als die blühenden Landschaften nicht kamen, als sehr viele Leute arbeitslos waren, massenhaft in den Westen zogen, Familien traumatisiert wurden. Aber dafür wurden die Ostdeutschen als „Jammer-Ossis“ gescholten. Weil diese 90er-Jahre-Erfahrung nicht ernst genommen wurde, wirkt bis heute das Gefühl der Ostdeutschen fort, nicht gesehen, nicht für die eigene Lebensleistung anerkannt zu werden. Natürlich baut die AfD auch auf diese Frustration.

Ist die oft zitierte Resilienz, die Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen, ein Thema, mit dem eine Partei, sagen wir die SPD, Wähler mobilisieren könnte?

Darüber habe ich länger nachgedacht und inzwischen hielte ich das für einen großen Fehler, weil diese Resilienz immer gegen die Politik erworben wurde. Weil ich von ‚denen da oben‘ nichts zu erwarten hatte, musste ich mir alles selbst erarbeiten, resilient werden. Das kenne ich auch aus meiner Jugend in Frankfurt. Es gab keine Strukturen für Jugendliche, also haben wir uns selbst alternative Kulturorte geschaffen.

Es wäre also eher gefährlich in Zeiten, in denen Politiker Belastungen verantworten müssten, Bürger für ihre Belastbarkeit zu loben?

Das ist eine Unterstellung, aber das kriegt man nicht aufgehoben. Im Moment ist mein Eindruck, um Augenhöhe für einen Dialog zwischen Politik und Bürgern herzustellen, muss man was umdrehen. Es ist nicht mehr so, dass Politik von oben agiert und runterkommen muss, sondern Politik wirkt einfach überfordert und hilflos. Um Augenhöhe zum Bürger herzustellen, dazu müssen die Demokraten erstmal den Rücken gerademachen. Und im nächsten Schritt geht es darum, die Überforderungsszenarien anzuerkennen. Es wird oft floskelhaft von „multiplen Krisen“ unserer Zeit gesprochen, aber nicht zu Ende gedacht, was daraus folgt.

Man müsse sich mit der AfD inhaltlich auseinandersetzen, wird oft gefordert. Hieße das, die Politik soll auf die jüngsten „Remigrationsideen“ der AfD hin die Überforderung durch Migration diskutieren?

Der Fehler dabei ist, dass man das Problem auf dem Rücken der Geflüchteten austrägt. Eine ehrliche Debatte würde proaktiv über strukturelle Überforderung in den Kommunen sprechen, die die Menschen unterbringen und versorgen. Um gerechte Verteilung müsste es gehen und darum, wie wir sicherstellen, dass Einheimische nicht benachteiligt werden, etwa bei Kita- oder Schulplätzen – auch das gehört dazu.

Die Politik soll den Rücken gerademachen, sagten Sie. Sind Politiker heute ‚die da unten‘?

Wir betrachten Politik heute in allen gesellschaftlichen Strömungen als persönliche Dienstleistung. Politik ist aber keine Dienstleistung. Und ich bin auch allein weder als Progressiver noch als Konservativer in der Mehrheit. Politik ist der Ausgleich von Interessen über all diese Gruppen hinweg. Und dann bedeutet Politik auch noch, über die Zukunft nachzudenken. Dieses Politikverständnis muss man gegenüber Populisten auch verteidigen.

Zur Person

Mathias Richel, geb. 1981, hat als Kommunikationsberater zum Beispiel die Kampagne „Stadt der Brückenbauer:innen“ mit entworfen, mit der sich Frankfurt (Oder) 2022/23 für das Zukunftszentrum zur Deutschen Einheit des Bundes bewarb. Richel lebt in Berlin und ist Mitglied der SPD.