Archiv der Kategorie: Heute im OGA

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen?

OGA vom 29. Februar 2024 BRANDENBURG

Arbeiten für 80 Cent pro Stunde

Flüchtlinge

Ein Landkreis in Thüringen startet mit einer Arbeitspflicht für Asylbewerber. Im Süden Brandenburgs wird das bereits praktiziert. Wie sieht es in anderen Regionen der Mark aus?

Von Ulrich Thiessen

Der Saale-Orla-Kreis in Thüringen machte zu Beginn des Jahres Schlagzeilen, als ein CDU-Kandidat sich in der Stichwahl nur äußerst knapp gegen einen AfD-Politiker behaupten konnte. Nun macht der neue Landrat, Christian Herrgott (CDU), bundesweite Schlagzeilen mit der Initiative, Asylbewerber zu Arbeitseinsätzen einzusetzen.

Für vier Stunden am Tag sollen sie Flächen rund um Gemeinschaftsunterkünfte pflegen. Die ersten Arbeitseinsätze laufen auf Freiwilligenbasis, theoretisch wären aber auch Verpflichtungen und Leistungskürzungen bei einer Weigerung möglich.

Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen, wurde schon versucht.

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür gibt es schon lange. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht dafür eine Aufwandsentschädigung von 80 Cent je Stunde vor. Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, geht nun einen Schritt weiter. Gegenüber „Bild“ sprach er sich dafür aus, die Arbeitspflicht nicht nur auf gemeinnützige Tätigkeiten zu beschränken, sondern Asylbewerber auch in der Wirtschaft einzusetzen. Gegenüber dem „Spiegel“ nannte er die Gastronomie als Einsatzfeld. Dazu müsste jedoch das entsprechende Bundesgesetz geändert werden.

Olaf Schöpe, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Brandenburg, kann sich verpflichtete Asylbewerber in seinem Gewerbe nicht vorstellen. Wenn, dann sollten Einzelne die Möglichkeit bekommen, ein Praktikum zu machen, um dann angelernt und integriert zu werden.

Sind dann verpflichtende gemeinnützige Arbeitseinsätze auch in Brandenburg zu erwarten? Jan Redmann, CDU-Landesvorsitzender, verspricht sich von solchen Maßnahmen einen doppelten Effekt. „Zum einen können wir das Miteinander von Einheimischen und Geflüchteten in unseren Kommunen verbessern. Zum anderen würde eine sinnstiftende Aufgabe Geflüchteten helfen, ihren Alltag besser zu strukturieren“ argumentiert Redmann. Außerdem sei es von Vorteil beim Spracherwerb. Der Christdemokrat verweist auf den Landkreis Elbe-Elster, wo sein Parteifreund Christian Jaschinski als Landrat bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt habe.

Das, was im Saale-Orla-Kreis jetzt mit viel Aufmerksamkeit bedacht wird, ist im Süden Brandenburgs geübte Praxis. Torsten Hoffgaard, Sprecher der Kreisverwaltung von Elbe-Elster berichtet, dass die Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften beim Sozialamt einen Antrag stellen und dann entsprechende Vereinbarungen eingehen. So wurden für die Gemeinschaftsunterkunft Hohenleipisch 24 Bewohner zu Arbeitseinsätzen verpflichtet. In Doberlug-Kirchhain sind es 30 und in Elsterwerda 2.

Hoffgaard berichtet, dass es 2021 auch den Versuch gab, Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen. Es habe teilweise keine Akzeptanz an den geplanten Arbeitsorten gegeben, teilweise wurde Widerspruch gegen die Arbeit eingelegt oder es wurden Arbeitsunfähigkeitsschreiben vorgelegt. Letztlich, so der Sprecher, habe sich der Aufwand nicht gelohnt.

Daniel Kurth (SPD), Landrat im Barnim und stellvertretender Vorsitzender des Landkreistages kann sich so etwas in seinem Kreis nicht vorstellen. Ziel müsse es sein, Flüchtlinge so schnell wie möglich in reguläre Arbeit zu bringen, bei der sie auch eigenes Geld verdienen. Einsätze zum Straßenfegen und in Parks würden nur wie in den 90ern wieder zu Debatten führen, dass Flüchtlinge den angestammten Mitarbeitern die Arbeit wegnehmen.

Karina Dörk (CDU) Landrätin der Uckermark, hat ebenfalls Vorbehalte, Asylbewerber zur Arbeitseinsätzen zu verpflichten. Man solle sich da nicht eine Gruppe an Leistungsbeziehern herausgreifen. Wenn, dann sollte das Thema breiter diskutiert werden. Auch in Brandenburg an der Havel gibt es keine Pläne, Flüchtlinge zu Arbeitseinsätzen zu verpflichten, heißt es aus dem Rathaus der Domstadt.

Gernot Schmidt (SPD), Landrat von Märkisch-Oderland, will sich nicht an einer solchen Debatte beteiligen. Sein Landkreis konzentriert sich als erster in Brandenburg auf die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber in Brandenburg. Schmidt befürchtet, dass es bei einer Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit in einzelnen Kreisen und eventuellen Sanktionen dazu kommt, dass die Betroffenen hin- und herziehen und viele in die Illegalität nach Berlin abwandern, wo seiner Kenntnis nach schon heute viele schwarz arbeiten.

Hilfskräfte beim Waldumbau?

Sozial- und Integrationsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) warnt derweil vor einer Diskussion zur Arbeitspflicht, die nur die falsche These von „arbeitsscheuen“ Geflüchteten transportieren würde, wie sie betont. „Wir brauchen keine Scheindebatten, sondern endlich einen echten Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Geflüchtete müssen schneller und unbürokratischer Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Und wir brauchen noch mehr Unternehmen, die Asylsuchende und Geduldete beschäftigten“, erklärte Nonnemacher.

In diesem Zusammenhang hat Barnims Landrat Daniel Kurth einen Vorschlag. Er verweist auf den hohen Arbeitskräftebedarf beim Waldumbau. Er könnte sich vorstellen, Asylbewerber als Hilfskräfte auf diesem Gebiet einzusetzen, wo das Land ohnehin nicht ausreichend Waldarbeiter einsetzen kann. Dann, so Kurth, aber nicht zwangsverpflichtet für 80 Cent die Stunde, sondern mit einem Lohn, der sie von Leistungsbezügen unabhängig macht.

Asylsuchende und Flüchtlinge in Brandenburg

OGA vom 27. Februar 2024 BRANDENBURG

Zugewandert wird vor allem im Speckgürtel

Migration

In Brandenburg leben derzeit so viele Ausländer wie nie zuvor. Es sind nicht nur Flüchtlinge. Menschen kommen auch, um hier zu studieren oder zu arbeiten. Nicht wenige zahlen Steuern.

Von Janine Reinschmidt

Noch nie haben so viele Menschen aus dem Ausland in Brandenburg ein neues Zuhause gefunden. Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hat sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Brandenburg von knapp 88.000 auf 198.000 (31. März 2023) mehr als verdoppelt. Aktuell beträgt der Ausländerteil in Brandenburg rund sieben Prozent.

Im bundesweiten Vergleich sind zwischen Havel, Spree und Oder dennoch wenige Ausländer registriert. Nordrhein-Westfalen liegt mit über drei Millionen Ausländern, das sind 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf Platz 1. Die wenigsten Zugezogenen aus dem Ausland, knapp 116.000, verzeichnet hat das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Das entspricht einem Ausländeranteil von 6,5 Prozent.

Mit der Nähe von größeren Städten verbindet sich die Hoffung auf Arbeit.

Dass sich das Zusammenleben im Alltag schwierig gestaltet, weiß Doris Lemmermeier, Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg. Warum ist das so?

Probleme entstünden unter anderem in Alltagssituationen. Ein Klassiker sei die Begegnung an der Supermarktkasse mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen. Kopfschütteln oder genervte Kommentare wie „Können die kein Deutsch?“ seien keine Seltenheit. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung, die stattfindet.

Für die Zugezogenen, die sich integrieren wollen, mangelt es aber zum Teil an Sprachkursangeboten. Hier trage die Politik Schuld. „Vor allem Menschen, die auf dem Land leben, sind benachteiligt“, erklärt Doris Lemmermeier. Dort seien die Angebote spärlich.

Ein weiteres Problem sieht sie im Umgang mit dem Begriff „Ausländer“. Viele setzen den Begriff Ausländer mit Flüchtlingen oder Asylbewerbern gleich. Dabei haben lediglich 30 Prozent der Ausländer in Brandenburg einen Flüchtlingsstatus.

Eine mangelhafte Integration hängt nicht nur von fehlenden Sprachkursen ab. Sie liegt oft in vielen bürokratischen Hürden begründet. Etwa der Anerkennung der Abschlüsse oder die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, die für die Aufnahme einer Arbeit Voraussetzung ist. Dass eine unbürokratische Integration in den deutschen Arbeitsmarkt theoretisch möglich sein kann, zeigt der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine. Tausende Schutzsuchende sind in den vergangenen zwei Jahren aus der Ukraine nach Brandenburg gekommen. Ihnen wurde, anders als bei Flüchtlingen gewöhnlich, ein direkter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt.

Doch es ist nicht immer die Flucht vor einem Krieg, einer humanitären Katastrophe oder einer Verfolgung, die Menschen zwingt, ihr Land zu verlassen. In Brandenburg leben eben auch die, die zum Studieren oder Arbeiten hergekommen sind. Letzteres betreffe vor allem die polnische Bevölkerung. „Entgegen dem Stereotyp zahlen viele Ausländer Steuern und die meisten Flüchtlinge wollen so schnell wie möglich arbeiten, dürfen es aber oft nicht“, sagt Doris Lemmermeier.

Zudem denkt die Integrationsbeauftragte auch an jene, die Deutschland wieder verlassen. Das bedauere sie. „Wir sind auf Zuwanderung im Land angewiesen“ – gerade im Hinblick auf den anhaltenden Fachkräftemangel. Nach Angaben des IHK- „Fachkräfte Monitor Brandenburg“ wird die Zahl der fehlenden Fachkräfte von 56.000 (Stand 2019) auf 90.000 (berechnet für das Jahr 2030) steigen.

Wie aber gehen die Ämter und Behörden mit dem stetigen Anstieg der Zugezogenen aus dem Ausland um? Kommen die Ausländerbehörden an ihre Grenzen? Kora Kutschbach, Pressesprecherin der Stadt Frankfurt (Oder), berichtet, dass die steigende Zahl ausländischer Menschen spürbar sei. Von einer Überforderung könne aber keine Rede sein. Um dem Anstieg der Ausländerzahl personell gerecht zu werden, habe die Stadtverwaltung entschieden, eine weitere Stelle in der Ausländerbehörde einzurichten.

Juliane Güldner, Pressesprecherin der Stadt Potsdam, teilt mit, dass die Ausländerbehörde stark belastet sei. Dies wirke sich auf Kunden und Mitarbeitende aus. „Betroffene müssen sich auf Terminvorlaufzeiten von bis zu drei Monaten sowie längere Bearbeitungszeiten bei der Prüfung von Aufenthalts- und Erwerbsrechten einstellen.“

Dass gerade Großstädte von einem enormen Anstieg Zugezogener aus dem Ausland betroffen sind, ist nach Ansicht von Doris Lemmermeier kein Zufall. Die Nähe zur Stadt sei bei der Wohnortswahl entscheidend. „Die Menschen erhoffen sich dort einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt“, erklärt sie.

Weniger Zugezogene am Rande

Mit fast 25.000 Zugezogenen aus dem Ausland (Stand 31. August 2023) hat Potsdam die meisten Ausländer. Dicht gefolgt von der Stadt Cottbus und vom Landkreis Oder-Spree. „Als Grund anzunehmen ist dafür der Sitz der Zentrale Ausländerbehörde (ZABH) in Eisenhüttenstadt“, sagt Doris Lemmermeier. Die Randgebiete in Brandenburg, wie etwa der Landkreis Elbe-Elster (3775 Ausländer) oder die Prignitz (4910 Ausländer) verzeichnen die wenigsten Zugezogenen.

Weiterhin zeigt sich, dass der Speckgürtel bei Ausländern attraktiv ist. Er bietet neben einer raschen Stadtanbindung in Richtung Berlin und Potsdam Ruhe und Erholung im Grünen.

Unterschied zwischen Asylsuchenden und Flüchtlingen

Asylsuchende suchen Schutz vor unter anderem politischer Verfolgung nach Art. 16a GG oder suchen internationalen Schutz nach der entsprechenden Richtlinie der EU. Die Gewährung des Asylstatus führt zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Demnach sind Flüchtlinge ausländische Personen, die bereits einen Status erhalten haben. Das Asylverfahren ist abgeschlossen. Entscheidend für den Flüchtlingsstatus ist jedoch, dass eine Verfolgung nachgewiesen werden kann.

Der rechtliche Unterschied führt zu unterschiedlichen festgelegten Behandlungen, Leistungen und Ansprüchen.

Kampagnen der AfD und warum diese gerade im Osten fruchten…?

OGA vom 23. Februar 2024 BRANDENBURG

Sprüche, Strategien,Stimmenfang

Wahlkampf

Welche AfD-Losungen ziehen bei Wählern und was läuft falsch bei anderen Parteien in Deutschland? Ein Gespräch über politische Kommunikation mit Berater Mathias Richel.

Von Nancy Waldmann

Mathias Richel stammt aus Frankfurt (Oder) und berät Verbände, Organisationen, Marken und Parteien bei ihrer Kommunikation. Mehrere Wahlkämpfe für die SPD hat er begleitet. Er spricht darüber, was an den Kampagnen der AfD clever ist und warum die Regierenden den Rücken gerade machen sollten.

Herr Richel, über die Kampagnen der AfD haben Sie gesagt, dass die gut gemacht sind. Warum ziehen die?

Sie treffen das Stimmungsbild vieler Menschen. In diesen konfusen Zeiten eint uns eine große Überforderung, die bis ins Private hineinreicht. Seit der Pandemie haben wir Krisen, die direkt unsere eigene Lebenswelt betreffen: der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die steigenden Energiekosten, der Klimawandel. Die Leute entwickeln da ein großes Ohnmachtsgefühl, weil sie daran nichts ändern, egal wie sehr sie arbeiten und sich anstrengen. Das sorgt für große Unsicherheit. Früher galt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern besser geht als mir‘. Heute gilt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern wenigstens noch so gut geht wie mir‘. Das zeigt die immense Werteverschiebung. Wenn die AfD dann verspricht „Deutschland, aber normal“, dann lockt sie die Menschen in eine Nostalgiefalle.

Nach dem Motto „früher war alles besser“. Dabei war ja gerade in Brandenburg, wo Sie aufgewachsen sind, vieles früher gerade nicht besser.

Ich glaube, es geht um Vereinfachung. Um ein Zurück in die alte Zeit – das verspricht Klarheit, bekannte und geordnete Verhältnisse. Was trennt uns davon? Klar: Migration, Feminismus, LGBTQ, veränderte Sprache – das erzählt die AfD und das ist hochwirksam. Weil sie verspricht, dass es in der Vergangenheit Sicherheit gibt. Aber dahin können wir nicht zurück.

„Deutschland, aber normal“ war die Losung zur Bundestagswahl 2021. Ein Teil der aktuellen Krisen kam jedoch erst danach.

Ja, seitdem hat sich die Stimmung, die zu solch einer Kampagne führt, verstärkt. Seitdem kam der Ukraine-Krieg dazu, die Energieknappheit. Der Wunsch ist größer geworden, all das Schwierige, das daraus folgt, aufzulösen. Die AfD zieht diese Kampagne aus dem damaligen Wahlkampf auch in ihrer jetzigen Wortwahl weiter durch.

Hätten sich andere Parteien etwas abgucken können von der AfD-Kampagne?

Bloß nicht, man sollte nicht AfD-Debatten nachspringen. Ich glaube auch nicht, dass man den harten Wählerkern der AfD zurückholt. Aber trotzdem hätten die anderen Parteien etwas anders machen müssen. Man darf nicht über die Komplexität und das Belastungsgefühl hinaus selbst noch belastend wirken.

Heißt das, man sollte als Politiker nicht darüber sprechen, was man Bürgern abverlangt?

Die Kommunikation der Ampel-Parteien ist schlecht, und zwar deshalb, weil man immer das Gefühl hat, sie wollen noch mehr belasten. Sie argumentieren mit Zahlen und Zielen, die für viele Menschen außerhalb ihrer Lebenserwartung liegen. Zu Hause brennt es, das Geld zerrinnt mir zwischen den Fingern und da soll ich meine Ölheizung rausreißen, damit in 25 Jahren nicht ein Klima-Kipppunkt erreicht wird – so kommt das in etwa an. In Politik und medialer Debatte wurde diese Überforderung nicht ernst genommen. Die Politik kann die Komplexität zwar nicht auflösen, muss diese aber vielmehr erklären.

Wie könnte denn die Kommunikation über Klimaziele am Küchentisch konkret aussehen? Wirtschaft und Konsum klimaneutral zu machen, wird wahrscheinlich nicht ohne Einbußen gehen.

So blöd es klingen mag, aber die Fragen, die beantwortet werden müssen, sind: ‚Was habe ich davon? Was macht das mit meinem Kontostand?‘ Wir haben einen sehr abgenutzten Begriff von Solidarität. Zum Beispiel Solidarität mit nachfolgenden Generationen – das bedeutet für viele erstmal: ‚Es kostet mich was‘. Das mag egoistisch sein, aber das ist legitim, denn es geht ja um hart erarbeitetes Geld, das da in die Zukunft investiert werden soll.

Ist ‚Zukunft‘ nicht ein unattraktiver Begriff geworden, den man eher meiden sollte?

Man muss sogar mit der Zukunft argumentieren. Auch wenn es das nicht einfacher macht. Diese Zukunft muss erreichbar und praktikabel sein. Und die Rechnung für die Ölheizung ist ganz einfach: Was kostet es mich, die noch 27 Jahre weiterzubetreiben und wie viel kriege ich gefördert vom Staat, wenn ich sie jetzt ersetze. Politik muss das erklären. Leute der Wirtschaft sind dazu nicht in der Lage, die müssen schon weiter sein, um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Bei der Landtagswahl 2019 hatte die AfD auf ihren Plakaten „Vollende die Wende!“ stehen. Auch ein gelungener Slogan aus Werbersicht?

Ich denke, diese Kampagne legte ein völlig falsches Bild von der „Wende“ zugrunde. Die Ostdeutschen werden von den Westdeutschen immer für die friedliche Revolution gefeiert, dabei stand die Mehrheit von ihnen hinter der Gardine und hat abgewartet, was passiert. Auf den Straßen war nur eine Minderheit. Die eigentliche Leistung der Ostdeutschen war es, die 1990er-Jahre durchzustehen, als die blühenden Landschaften nicht kamen, als sehr viele Leute arbeitslos waren, massenhaft in den Westen zogen, Familien traumatisiert wurden. Aber dafür wurden die Ostdeutschen als „Jammer-Ossis“ gescholten. Weil diese 90er-Jahre-Erfahrung nicht ernst genommen wurde, wirkt bis heute das Gefühl der Ostdeutschen fort, nicht gesehen, nicht für die eigene Lebensleistung anerkannt zu werden. Natürlich baut die AfD auch auf diese Frustration.

Ist die oft zitierte Resilienz, die Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen, ein Thema, mit dem eine Partei, sagen wir die SPD, Wähler mobilisieren könnte?

Darüber habe ich länger nachgedacht und inzwischen hielte ich das für einen großen Fehler, weil diese Resilienz immer gegen die Politik erworben wurde. Weil ich von ‚denen da oben‘ nichts zu erwarten hatte, musste ich mir alles selbst erarbeiten, resilient werden. Das kenne ich auch aus meiner Jugend in Frankfurt. Es gab keine Strukturen für Jugendliche, also haben wir uns selbst alternative Kulturorte geschaffen.

Es wäre also eher gefährlich in Zeiten, in denen Politiker Belastungen verantworten müssten, Bürger für ihre Belastbarkeit zu loben?

Das ist eine Unterstellung, aber das kriegt man nicht aufgehoben. Im Moment ist mein Eindruck, um Augenhöhe für einen Dialog zwischen Politik und Bürgern herzustellen, muss man was umdrehen. Es ist nicht mehr so, dass Politik von oben agiert und runterkommen muss, sondern Politik wirkt einfach überfordert und hilflos. Um Augenhöhe zum Bürger herzustellen, dazu müssen die Demokraten erstmal den Rücken gerademachen. Und im nächsten Schritt geht es darum, die Überforderungsszenarien anzuerkennen. Es wird oft floskelhaft von „multiplen Krisen“ unserer Zeit gesprochen, aber nicht zu Ende gedacht, was daraus folgt.

Man müsse sich mit der AfD inhaltlich auseinandersetzen, wird oft gefordert. Hieße das, die Politik soll auf die jüngsten „Remigrationsideen“ der AfD hin die Überforderung durch Migration diskutieren?

Der Fehler dabei ist, dass man das Problem auf dem Rücken der Geflüchteten austrägt. Eine ehrliche Debatte würde proaktiv über strukturelle Überforderung in den Kommunen sprechen, die die Menschen unterbringen und versorgen. Um gerechte Verteilung müsste es gehen und darum, wie wir sicherstellen, dass Einheimische nicht benachteiligt werden, etwa bei Kita- oder Schulplätzen – auch das gehört dazu.

Die Politik soll den Rücken gerademachen, sagten Sie. Sind Politiker heute ‚die da unten‘?

Wir betrachten Politik heute in allen gesellschaftlichen Strömungen als persönliche Dienstleistung. Politik ist aber keine Dienstleistung. Und ich bin auch allein weder als Progressiver noch als Konservativer in der Mehrheit. Politik ist der Ausgleich von Interessen über all diese Gruppen hinweg. Und dann bedeutet Politik auch noch, über die Zukunft nachzudenken. Dieses Politikverständnis muss man gegenüber Populisten auch verteidigen.

Zur Person

Mathias Richel, geb. 1981, hat als Kommunikationsberater zum Beispiel die Kampagne „Stadt der Brückenbauer:innen“ mit entworfen, mit der sich Frankfurt (Oder) 2022/23 für das Zukunftszentrum zur Deutschen Einheit des Bundes bewarb. Richel lebt in Berlin und ist Mitglied der SPD.

Die Bauern und ihr wirklicher Gegner!

OGA von 22. Februar 2024 POLITIK

Die großen Vier und die Bauern

Marktmacht

Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe haben über 75 Prozent Marktanteil im Lebensmitteleinzelhandel. Die Landwirte beschweren sich über den Preisdruck. 

Von Dominik Guggemos

Tausende Traktoren und Zehntausende Bauern auf den Straßen haben in den letzten Monaten deutlich gemacht: Es brodelt in der deutschen Landwirtschaft. Zwar war die geplante Streichung von Agrarsubventionen durch die Ampel-Koalition der Auslöser für die Wut der Bauern, aber die Unzufriedenheit sitzt deutlich tiefer. Die Landwirte beschweren sich über einen enormen Preisdruck durch den Handel. Was ist dran an den Vorwürfen gegen die großen Supermarktketten?

Wie groß ist die Marktmacht des Einzelhandels? Die „Big Four“, also Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe (Lidl und Kaufland), machen einen Marktanteil von über 75 Prozent im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) unter sich aus – zum Leidwesen vieler Bauern. „Der Preisdruck kommt ganz eindeutig aus dem LEH“, sagt Willi Kremer-Schillings dieser Zeitung. Der Landwirt war Mitglied im „Praktikernetzwerk“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums, betreibt als „Bauer Willi“ einen Blog und schreibt Bücher. Um seinen Punkt zu untermauern, macht er eine Rechnung auf: „Das Kilo Mehl kostete bei Aldi vor Corona 39 Cent, bei einem Getreidepreis von 190 Euro pro Tonne. Jetzt kostet es bei Aldi-Süd 79 Cent, bei 30 Prozent geringeren Erzeugerpreisen für die Bauern.“ Fairerweise müsse man zwar sagen, so Kremer-Schillings, dass die Mühlen längerfristige Verträge abschlössen und der LEH mit gestiegenen Energiepreisen zurechtkommen müsse. „Aber die Rohstoffpreise sollten doch einen Einfluss auf die Preise im Markt haben – zumal die Energiepreise in der Zwischenzeit ja auch wieder gesunken sind.“

Was entgegnet der Handel den Vorwürfen? Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer beim Handelsverband Deutschland (HDE), verweist auf Nachfrage darauf, dass es kaum direkte Geschäftsbeziehungen zwischen Landwirten und den Handelsunternehmen gebe. „Zudem geht bei vielen Nahrungsmitteln ein großer Anteil der Produktion aus der heimischen Landwirtschaft in den Export.“ Daher spiele der Handel bei einem großen Teil der Produkte keine Rolle bei der Entlohnung der Bauern.

Was sagt die Monopolkommission über die Marktmacht der Handelsriesen? Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat das unabhängige Beratungsgremium aufgefordert, sich die Wettbewerbssituation genauer anzuschauen. In ihrem Bericht schreibt die Monopolkommission, die Lebensmittellieferketten in Deutschland wiesen durchaus „Anzeichen von Wettbewerbsproblemen und Marktmacht“ auf. Als Gründe dafür nennt sie die langwierige Produktion in der Landwirtschaft bei eingeschränkter Planbarkeit sowie die Verderblichkeit der Waren. Lebensmittelmärkte seien „oft keine vollständig funktionierenden Wettbewerbsmärkte“.

Die Monopolkommission schreibt aber auch: „Eine hohe Marktkonzentration kann ein Indiz für Marktmacht sein, muss aber nicht zwangsläufig hierauf hindeuten.“ Die Daten­lage sei zu komplex, um endgültige Aussagen zu treffen. Deswegen empfiehlt sie auch keine sofortigen Maßnahmen, will die Lieferketten lediglich noch gründlicher untersuchen, was der Handel für sich verbucht, wie Genth betont: „Die Kommission warnt ausdrücklich vor Schnellschüssen.“

Hilft die Politik den Bauern? Wirtschaftsminister Habeck will dafür sorgen, dass die Bauern künftig eine stärkere Position bei der Bestimmung der Preise für ihre Produkte bekommen. „Das Haupt­problem der Landwirtschaft ist häufig, dass sie ihre Pro­duktions­kosten nicht weitergeben können“, sagt Habeck. Der Markt sei nicht fair. Er wolle als Wirtschaftsminister „schauen, ob man nicht die Mechanismen so überdenken kann, dass die Betriebe in die Lage versetzt werden, ihre Preise auch zu realisieren“. Welche Mechanismen Habeck dabei genau im Sinn hat, wollte sein Ministerium auf Nachfrage nicht sagen. Genth vom Handelsverband warnt bereits präventiv: Die von Habeck angedeutete Preisregulierung würde „tendenziell zu höheren Verbraucherpreisen führen, ohne aber den Erzeugern zu helfen“.

Ging es den Bauern finanziell zuletzt nicht sehr gut? Laut Bauernverband erwirtschafteten die Landwirte im Geschäftsjahr 2022/23 im Schnitt ein sattes Plus von 45 Prozent. „Ich werde in diesem Jahr 70 – aber ein Jahr wie 2022 habe ich noch nie erlebt“, sagt Kremer-Schillings. Er konnte wegen der Inflation als Reaktion auf den Ukraine-Krieg historische Erlöse erzielen – hatte aber niedrige Kosten für Dünger und Pflanzenschutz, die er noch vor Kriegsbeginn gekauft hatte. „Für 2023 wird es allerdings schon anders aussehen, denn da haben wir historisch hohe Ausgaben für Dünger – wir mussten fast das Dreifache bezahlen wie zuvor“, sagt Kremer-Schillings. Der Gewinn aus 2022 werde durch 2023 wahrscheinlich komplett aufgefressen.

Wie kommt ein Produkt vom Feld ins Supermarktmarktregal? Bei Getreide landet es zunächst in einer Genossenschaft. „Vom Landwirt geht es an die Getreidemühle, von der Mühle an den Bäcker, von dem zum Endverbraucher“, sagt Kremer-Schillings. Fleisch gäben die Bauern zu 98 Prozent an einen Schlachthof. „Davon gibt es vier große Ketten in Deutschland“, sagt er. Vom Schlachthof gehe es dann an die Verarbeiter, von denen zum Supermarkt – und von dort zum Verbraucher.

Was bringt die Ombudsstelle?

Seit Mai 2021 gibt es in Deutschland eine Ombudsstelle gegen unfaire Handelspraktiken des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), an die sich Landwirte wenden können. Sie basiert auf einer EU-Richtlinie und soll vor dem Hintergrund von erhaltenen Meldungen eine Untersuchung einleiten und Verstöße weiterleiten dürfen. Die Namen der Informationsgeber sollen anonym bleiben. Trotzdem beklagt Willi Kremer-Schillings: „Die Schiedsstelle wird fast gar nicht genutzt, weil die Landwirte Schiss haben.“ Sie seien dem LEH ausgeliefert. „Wir sprechen schließlich von einem Oligopol.“ Der Landwirt war Mitglied im „Praktikernetzwerk“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums.

Die CDU Brandenburg im Wahlmodus?

OGA vom 21. Februar 2024 TITELSEITE ORANIENBURG

CDU will Pflichtdienst für Jugendliche einführen

Gesellschaft

Die Ausbildung soll ab dem 18 Lebensjahr in Brandenburg erfolgen. Einsätze im Katastrophenschutz sind denkbar.

Von Ulrich Thiessen, Jessica Reichhardt

Die CDU im brandenburgischen Landtag will die Gesellschaft für die Bewältigung möglicher Katastrophen fit machen und gleichzeitig etwas gegen den Personalmangel in vielen Sicherheitsbereichen und in der sozialen Versorgung tun. Es gehe darum, das Land bis 2035 entsprechend aufzustellen, heißt es in einem Papier, das am Dienstag im Landtag vorgestellt wurde.

Darin weisen die Christdemokraten auf eine Reihe von Schreckensszenarien hin, auf die Brandenburg aktuell nicht ausreichend vorbereitet sei. Das reicht von Naturkatastrophen bis hin zu Stromausfällen. In all diesen Krisensituationen, so die Analyse, fehle es an Strukturen und vor allem an ausreichend geschultem Personal.

Für solche Einsätze sollen die Jugendlichen an 45 Tagen ausgebildet werden. Der Fraktionschef Jan Redmann erläuterte, dass der Umfang in etwa dem einer Grundausbildung bei der Bundeswehr entspricht. Der Dienst an der Gesellschaft soll den Plänen zufolge zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr erfolgen. Es geht um den Katastrophenschutz, den Brandschutz, die Bereiche der Wohlfahrt, um Sozialarbeit und das Gesundheitswesen, heißt es. Qualifizierungen sollen bis zum 35. Lebensjahr erfolgen.

Redmann räumte am Dienstag ein, dass für den verpflichtenden Dienst Bundesgesetze geändert werden müssten. Aus diesem Grund kündigte er an, mit entsprechenden Anträgen die Bundes-CDU für die Idee gewinnen zu wollen. Aussagen, ob eine Vergütung geplant sei, konnte die CDU nicht beantworten.

SPD-Fraktionschef Daniel Keller, zeigt sich am Dienstag wenig begeistert vom Vorstoß des Koalitionspartners. Das erscheine ziemlich aus der Hüfte geschossen, sagte er. Es sei auch fraglich, ob in der kurzen Zeit Kenntnisse erworben werden können, die beispielsweise Einsätze im medizinischen Bereich rechtfertigen. Für die Grünen lehnte Fraktionschef Benjamin Raschke die Idee ab. Er warf der CDU vor, nach Wahlkampfthemen zu suchen.

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Irgendwie klingt dies wie aus dem Geschichtsbuch abgeschrieben.

Oder was stellte seinerzeit der Reichsarbeitsdienst dar? Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Die Landes-CDU wird für solche Gedankenspiele niemanden finden, der auf Bundesebene Gesetze dafür ändert. Hier sieht der geneigte Leser einmal mehr, wie diese Partei tickt und aus welchem Jahrhundert ihre Ideen kommen. Wehret den Anfängen!

Keiner soll sagen müssen, das habe ich nicht gewusst!

OGA vom 20. Februar 2024 POLITIK

Die Ideen der AfD

Programmatik

Was würde sich ändern, wenn die Partei die Regierungspolitik bestimmen würde? In ihrem Programm nennt sie ihre Pläne. Experten sagen, was die Folgen für Deutschland wären.

Von Dominik Guggemos

Die AfD ist in aller Munde. Viele sind empört über Treffen einiger ihrer Vertreter mit Rechtsextremisten, Millionen Menschen sind gegen die Rechtsaußen-Partei auf die Straße gegangen. Diskutiert wird auch über ein Parteiverbot. Aber was will die AfD konkret? Wie könnte sich das Leben vieler Menschen bereits kurzfristig ändern, wenn die Rechten die Mehrheit im Land hätten? Ein Blick in die programmatische Ausrichtung der Partei.

Gleichberechtigung von Frauen Die AfD „bekennt sich zur traditionellen Familie als Leitbild“. Was dazu führt, dass die offen lesbische Parteichefin Alice Weidel, die mit ihrer Frau zwei Söhne großzieht, für Selfies vor einem Plakat posieren muss, laut dem „Liebe“ bedeutet: „Mutter, Vater, Kinder!“ Weil die von der Wirtschaft benötigten Fachkräfte nicht aus dem Ausland kommen sollen, müssten die Frauen in Deutschland deutlich mehr Kinder bekommen. Erreichen will die AfD das mit einer „aktivierenden Familienpolitik“. Zum Beispiel, dass Eltern zum Erwerb von Wohneigentum zinslose Darlehen erhalten sollen – mit jedem Kind verringert sich die Schuldsumme. Klingt innovativ, gab es so ähnlich aber schon in der DDR und hieß „Ehestandsdarlehen“: Bei der Geburt eines Kindes wurden 25 Prozent der Schuld erlassen. Im Volksmund wurde das „ab­kindern“ genannt. Die DDR blieb allerdings auch nach der Ein­führung des „Ehestandsdarlehens“ deutlich unter einer Geburtenrate von zwei Kindern pro Frau. Ungewollte Schwangerschaften wären für Frauen unter einer AfD-Regierung derweil deutlich schwieriger zu beenden – Abtreibungen seien „kein Menschenrecht“, heißt es.

Kinderbetreuung Die AfD will, dass Kinder länger zu Hause bleiben und später in die Kita gehen. Bei unter Dreijährigen soll „eine Betreuung, die Bindung ermöglicht“, im Vordergrund stehen. Die AfD fordert „eine echte Wahlfreiheit zwischen Fremdbetreuung in Krippen oder familiennaher Betreuung“. Diese echte Wahlfreiheit wäre laut Gerhard Brand allerdings ein sehr teures Unterfangen. Der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) bezweifelt auf Nachfrage, dass das für den Staatshaushalt finanzierbar wäre. Er betont, es sei erwiesen, dass es einen sehr positiven Effekt habe, wenn Eltern früh von außen – etwa in der Kita – dabei unterstützt würden, eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Das gilt insbesondere bei den Kleinsten. Der Verbandschef betont zudem, dass der Kitabesuch für die Chancengleichheit wichtig sei.

Nato Kann sich Deutschland noch auf die Sicherheitsgarantien der USA im Rahmen der Nato verlassen, wenn Donald Trump wiedergewählt werden sollte? Darüber wird gerade intensiv diskutiert. Für die AfD ist weniger Präsenz der Vereinigten Staaten ganz unabhängig vom Ex-Präsidenten Trump erstrebenswert. Laut Europawahlprogramm lehnt sie „jegliche Dominanz außereuropäischer Großmächte in der Außen- und Sicherheitspolitik“ ab. Außerdem setzt sie sich für den Abzug aller noch auf deutschem Boden stationierten US-Truppen, „insbesondere deren Atomwaffen“ ein.

„Der dominante Strang der AfD ist antiamerikanisch“, sagt Markus Kaim dieser Zeitung. Aus Sicht des Sicherheits­experten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist Deutschland aber „sicherheitspolitisch von den USA abhängig“. Deutschland sei keine militärische Großmacht mehr, betont Kaim. „Man kann sich das anders wünschen, aber in der ge­genwärtigen Situation wäre die ­Abkopplung von Amerika fahr­lässig und gefährlich für Deutschland.“

Europäische Union Die EU ist für die AfD laut Europawahlprogramm „nicht reformierbar“, Parteichefin Weidel brachte ein Referendum über einen „Dexit“ ins Spiel, also den EU-Austritt Deutschlands. Laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) würde dies einen Wohl­standsverlust von 400 bis 500 Milliarden Euro jährlich bedeuten.

Medien Für die AfD ist nicht das Treffen einiger ihrer Vertreter mit Rechtsextremisten in Potsdam ein Skandal, sondern die Berichterstattung darüber – die Umkehr des Skandals ist eine gut eingeübte Kommuni­kationsstrategie. Besonders ARD und ZDF, für Millionen Deutsche eine wichtige Informations­quelle, werden leidenschaftlich attackiert. Die AfD will „die Zwangsfinanzierung des öffentlichen Rundfunks“ umgehend abschaffen und in ein „Bezahlfernsehen“ umwandeln. Wäre das legal?

„Aus verfassungsrechtlicher Sicht halte ich das für zulässig“, sagt der Oldenburger Staats- und Medienrechtler Volker Boehme-Neßler. Das Bezahl-Modell, das die AfD vorschlägt, hat aus seiner Sicht „rundfunkpolitisch durchaus Charme“. Die AfD will außerdem, dass die Kontrollgremien der Rundfunkanstalten von den Zuschauern gewählt werden. „Mehr direkte Demokratie bei der Besetzung der Rundfunkräte wäre nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern rundfunkpolitisch sicher eine gute Idee“, sagt Boehme-Neßler.

Entlastungen für Gutverdiener

„Die AfD ist – anders, als sie gerne vorgibt – keine Partei für kleine Leute“, sagt Knut Bergmann vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sieht das ähnlich: Die Steuerpläne der AfD, den Solidaritätszuschlag, Vermögensabgaben und Erbschaftsteuern abzuschaffen, würde Gutverdiener entlasten, nicht jedoch Menschen ohne großes Vermögen. Warum ist die AfD bei Arbeitern dann trotzdem so erfolgreich? Der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre findet, dass die AfD enorm von einer „kollektiven Abwertung“ profitiere, nach dem Motto: „Arbeiter wird nur, wer muss – und nicht studieren kann.“

Die einen sagen so, die anderen so…

OGA vom 19. Februar 2024 POLITIK

Machen Tablets dumm?

Bildung

Lange Zeit hieß es, Deutschland hinke bei der Digitalisierung der Schulen hinterher. Inzwischen warnen Experten vor den Gefahren der neuen technischen Möglichkeiten.

Von Michael Gabel

Ist Deutschland bei der Digitalisierung der Klassenzimmer „zehn Jahre zu spät“ dran, so wie es der Pisa-Papst und Bildungsforscher Andreas Schleicher sieht? Oder hat eine Gruppe von mehr als 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern recht, die den Sinn von immer mehr Tablets an den Schulen bezweifelt und einen „Stopp der Digitalisierung von Schulen und Kitas“ fordert? Ein Überblick über die wichtigsten Argumente.

Was bringt die Digitalisierung in der Schule? Laut Bildungsexperte Schleicher liegen die Vorteile auf der Hand: „Zunächst einmal bietet die Digitalisierung die Möglichkeit, Lernschwächen früh zu erkennen“, sagt der Deutschland-Verantwortliche für den Pisa-Bildungsvergleich. Zum Beispiel sei mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) bei Tests schon früh festzustellen, wo Förderbedarf bestehe. Eine Chance sieht Schleicher auch darin, in naturwissenschaftlichen Fächern am Rechner „selbst Experimente durchzuführen, die sonst kaum möglich wären“.

Auch die ständige wissenschaftliche Kommission, die die Bildungsministerien der Länder berät, betrachtet die neuen technischen Möglichkeiten grundsätzlich als Bereicherung. So könnten KI-gestützte Sprachlernprogramme etwa bei Hausaufgaben gute Dienste leisten, indem sie auch „außerhalb des regulären Unterrichtsrahmens Lehr- und Lernprozesse unterstützen“.

Beim Verband Bildung und Erziehung (VBE) betont man die Chance, Schulkinder individueller betreuen zu können. „Wir sehen jetzt schon, dass Lernprogramme Kinder ganz gezielt dabei unterstützen können, Aufgaben gleicher Struktur gut zu üben und auch andere Schwierigkeitsgrade auszuprobieren“, sagt VBE-Bundesvorsitzender Gerhard Brand.

Wie geht es mit der Digitalisierung voran? Anfangs schlecht, mittlerweile besser. Nach VBE-Angaben sind inzwischen etwa neun Zehntel aller Schulen einigermaßen gut mit Tablets, Smartboards (digitalen Tafeln) und Lernprogrammen ausgestattet. Das restliche Zehntel verfügt noch nicht über Klassensätze von Endgeräten. Darüber hinaus fehlt es vielerorts an kabellosem Internet.

Der VBE dringt auf mehr Tempo und fordert einen „gemeinsamen Kraftakt von Bund, Ländern und Kommunen, um Infrastruktur, Ausstattung und Wartung sicherzustellen“. Gemeint ist der Digitalpakt 2.0 zwischen Bund und Bundesländern. Doch die Fortsetzung des im Mai dieses Jahres auslaufenden ersten Digitalpaktes steckt wegen ungeklärter Finanzierung in der Warteschleife.

Welche Gefahren entstehen durch die Digitalisierung? Im Wesentlichen nennen Kritiker fünf Gründe, die gegen einen Schulunterricht sprechen, der überwiegend am Tablet stattfindet. Einer davon ist schlechtes Lernverhalten. Fremde Texte von der KI zusammenfassen lassen – für die ständige wissenschaftliche Kommission ist das der falsche Weg. Denn das eigene Zusammenfassen längerer Texte sei der beste Weg, „fachliches Wissen und fachliche Kompetenzen“ zu erwerben. Dies gelte vor allem für die Sachfächer und die Fremdsprachen.

Wer sich Informationen „selbstorganisiert“ aus frei zugänglichen digitalen Quellen zusammensuchen muss, statt sie einem Schulbuch zu entnehmen, verliert nach Angaben der Gesellschaft für Wissen und Bildung viel Zeit. Außerdem würden als Ausgleich die vielen Texte oft nur noch überflogen, statt in ihnen „vertiefend nach Wissen zu suchen“.

Klaus Zierer, Schulpädagogik-Professor in Augsburg und Mitunterzeichner des digitalisierungskritischen Schreibens, bezeichnet digitale Medien als „Ablenkungsherd“. Er befürchtet, dass sich Kinder und Jugendliche vorgeblich dem Schulstoff widmen, in Wahrheit aber nach Unterhaltsamem aus dem Internet Ausschau halten oder private Mitteilungen checken.

Internet-Recherche, digitale Lernaufgaben, KI – das alles kann zwar bei der Aneignung von Wissen hilfreich sein, ist aber nur ein schwacher Ersatz für die zwischenmenschliche Kommunikation, sei es mit der Lehrkraft oder den Mitschülern. Die Gesellschaft für Wissen und Bildung empfiehlt deshalb, bis zum Ende der sechsten Klasse auf die Digitalisierung des Unterrichts weitgehend zu verzichten.

Die Kritiker verweisen auf Empfehlungen aus der Medizin, wonach Kinder und Jugendliche ohnehin schon viel zu viel Zeit an den Bildschirmen verbringen. Folgen seien unter anderem: Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl und sogar Depressionen.

„Pädagogik vor Technik“

Das Rad der Digitalisierung an den Schulen lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Das weiß man auch bei der Gesellschaft für Bildung und Wissen, wo betont wird: „Es geht nicht um ein Verbot der digitalen Technik.“ Nur müsse das Prinzip gelten: „Pädagogik vor Technik.“ Digitalisierungsbefürworter sehen das im Prinzip nicht anders. Pisa-Experte Andreas Schleicher rückt die Chancen für Lehrkräfte in den Vordergrund. „Die Rolle der Lehrkraft verschiebt sich – weg vom Wissensvermittler, hin zum Mentor, der Lernprozesse ermöglicht und steuert.“ Schleichers Ausblick: Wenn die Technologie die Routinearbeit übernimmt, bekommen Lehrkräfte „Raum für das Wesentliche: die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werten“.mg

Wenn man den dafür nötigen Intellekt besitzt…. einige Gedanken zur AfD

OGA vom 13. Februar 2024 POLITIK

„Der Osten muss es aus sich selbst heraus schaffen“

Jessy Wellmer

In den neuen Bundesländern rebellierten viele Menschen gegen die vermeintliche moralische Überlegenheit des Westens, sagt die Journalistin, die selbst ein Kind der Wiedervereinigung ist. Wohin dieser Trotz führt und wie die AfD davon profitiert.

Von Philipp Hedemann

Ein Wintervormittag in einem Jugendstil-Haus in Berlin-Charlottenburg. Ursprünglich ein Varieté-Theater, während des Dritten Reiches ein Bordell, beherbergt das herrschaftlichte Gebäude seit den 70ern ein Café. Jessy Wellmer betritt den Laden gutgelaunt mit ihrem Hund, der Pudelmischlingsdame Juni. Ein Herr am Nebentisch erkennt die „Tagesthemen“-Moderatorin und sagt: „Ich möchte nicht stören. Ich wollte Ihnen nur kurz sagen, dass ich Ihre Reportagen über Ostdeutschland wirklich gut fand.“ Jessy Wellmer, die gerade ein neues Buch über das Auseinanderdriften von Ost und West veröffentlicht hat, freut sich über das Kompliment. Sie bestellt einen Pfefferminztee mit Honig, Juni legt sich zu ihren Füßen unter den Tisch.

Frau Wellmer, wie hoch ist die Mauer in den Köpfen fast 35 Jahre nach der Wende noch?

Viele Menschen im Osten empfinden die Haltung des Westens gegenüber Russland als Siegermentalität.

Leider viel höher, als ich es mein jugendliches Leben lang für möglich gehalten hatte. Ich hatte mich von dem Thema persönlich eigentlich schon verabschiedet. Aber seit den Krisen der letzten Jahre – also der Flüchtlingskrise, Corona und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine – wächst die Mauer wieder. Natürlich war auch vorher nicht alles in Ordnung, aber es ist jetzt etwas aufgebrochen, was längst verheilt schien. Wir sind nicht mehr auf dem Weg zusammenzuwachsen, sondern wir entfernen uns wieder voneinander. Das macht mir Sorgen.

Sie haben Gründe für die von Ihnen beobachtete Entfremdung angesprochen. Lassen Sie uns darüber näher sprechen. Welche Rolle hat Corona gespielt?

Corona breitete sich ja zunächst vor allem im Westen der Republik aus. Viele Menschen im Osten, auch Verantwortliche in den Landesregierungen, vertraten deshalb die Meinung: „Wir haben mit dieser Krankheit nichts zu tun.“ Das war falsch. Am Ende waren die Todeszahlen schließlich in fast allen ostdeutschen Bundesländern höher als im Westen. Die Beschränkungen haben aber viele im Osten so empfunden, als solle ihnen etwas von oben – und vom Westen – aufgedrückt werden. Das führte zu Gegenwehr und auch zu Trotzreaktionen.

Und warum lässt der Krieg in der Ukraine die Mauer in den Köpfen wieder höher werden?

Viele Menschen im Osten empfinden die Haltung des Westens gegenüber Russland als Siegermentalität. Sie haben den Eindruck, der Westen fühle sich moralisch überlegen, stehe auf der richtigen Seite und wolle nach eigener Überzeugung das Richtige. Putin und die Russen seien hingegen böse, weil sie die Ukraine angegriffen haben, die Ukrainer sind die Guten. Viele empfinden das als ein westliches Gut-Böse-Schema – wie aus einem James-Bond-Film. Sie haben das Gefühl, dass der Westen dem Osten sagen will, was er zu denken hat. Deswegen solidarisieren sie sich mit den Russen. Und manche rechtfertigen sogar Putins Angriffskrieg.

Wut auf den Westen als Rechtfertigung für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg?

Ich finde das falsch. Aber ich glaube schon, dass da bei vielen, die Putins Verantwortung für diesen Völkerrechtsbruch und den mörderischen Krieg relativieren, andere Erfahrungen reinspielen. Ich glaube, dass viele Menschen im Osten das Gefühl der moralischen Überlegenheit des Westens als persönlichen Angriff auf ihre eigene Identität sehen – ähnlich wie das vor 20 oder 30 Jahren war. Und wieder geraten sie in den alten Rechtfertigungszwang, weil der Westen schon einmal ihr Leben als falsch betrachtet und beurteilt hat. Ich erlebe oft, dass dabei auch Dinge gerechtfertigt werden, die eigentlich nicht zu rechtfertigen sind.

Womit wir bei der dritten Ursache wären: den Flüchtlingen.

Es gibt auch im Osten eine große Hilfsbereitschaft, ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete, Menschen, die Syrer oder Ukrainer bei sich aufgenommen, ihnen geholfen oder Sprachunterricht gegeben haben. Ich beobachte aber, was auch Soziologen beschreiben, dass sich viele Ostdeutsche selbst als Angehörige einer benachteiligten Minderheit empfinden. Das kann zu einer Art Konkurrenzbewusstsein führen und manchmal zu der Fehlwahrnehmung, Geflüchteten oder Asylbewerbern werde größere Zuwendung entgegengebracht als „unseren Menschen“. Geflüchtete erfahren so vielfach weniger Solidarität und Empathie. Populisten haben auf die Ängste der Menschen eine einfache Antwort: „Die müssen alle weg!“ „Remigration!“ Der Rechtspopulismus verfängt, wie wir wissen, auch im Westen, aber er fällt im Osten oft auf besonders nahrhaften Boden.

Im September finden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Die AfD könnte stark abschneiden. Welche Rolle spielt sie bei der neuen Entfremdung zwischen Ost und West?

Populisten nutzen sie aus. Das gilt nicht nur für Rechtspopulisten. Die Populisten wissen, dass viele Menschen im Osten von den Umbrüchen und Lebensbrüchen nach dem Ende der DDR erschöpft und müde sind. Sie versprechen, das große Rad einfach wieder zurückzudrehen: Klimaschutz, Diversität, Flüchtlinge – brauchen wir alles nicht. Wir wollen nur dafür sorgen, dass ihr den Wohlstand, den ihr euch seit den 90er-Jahren erarbeitet und das Häuschen, das ihr euch gebaut habt, behalten könnt. Sie versprechen den Menschen, dafür zu sorgen, dass ihnen keine weiteren Anstrengungen zugemutet werden.

Macht der Populismus Ihnen Angst?

Diese scheinbar einfachen Lösungen sind in der Regel verbunden mit dem Abbau von Freiheit, Vielfalt und Demokratie. Es geht ja immer darum, demokratische Institutionen, die Unabhängigkeit der Justiz oder die der Medien zu beschädigen und zu beschränken. Viele Ostdeutsche haben nach 1990 Enttäuschungen erfahren, sie haben ihr Leben in der Demokratie nicht nur als Fortschritt erlebt. Und so gibt es leider bei vielen eine Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen. Ich finde den Gedanken, dass ich mit neun Jahren in eine Demokratie hineingehen konnte, dort alle Möglichkeiten hatte und dass dies jetzt, wo ich Mitte 40 bin, wieder vorbei sein könnte, wirklich schwer erträglich. Ich bin überzeugt, dass es den meisten Leuten im Osten genauso geht. Darum sollten sich alle, die aus einem Gefühl der Demütigung oder des Trotzes heraus handeln, bewusst machen, welchen Preis sie persönlich und wir alle dafür möglicherweise zahlen müssen.

In einer geleakten Nachricht schrieb der gebürtige Bonner und mächtige Vorstandsvorsitzende des Springer-Verlags Mathias Döpfner: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Eine radikale Einzelmeinung oder gängiges Vorurteil in Westdeutschland?

Ich fürchte, dass dies im Westen ein ziemlich verbreitetes Vorurteil ist. Wenn man nachts allein in seiner Wohnung sitzt und über eine Gruppe von Menschen spricht, von der man offenbar keine Ahnung hat, rutscht einem ein solches Pauschalurteil vielleicht schon mal raus.

Wollen Sie Döpfners vernichtende Pauschalkritik relativieren und entschuldigen?

Nein. Und ich weiß, dass sie vor allem im Westen zu Recht für Empörung gesorgt hat. Ich glaube, im Osten hatte dieses Zitat nicht so einen großen Effekt, weil es viele nur in dem bestätigt hat, was sie ohnehin schon über Westdeutsche zu wissen meinten: Nämlich, dass die Wessis uns immer noch für dumm und zurückgeblieben halten. So hat ein Vorurteil ein anderes zementiert.

Dass die Zustimmungswerte für die Demokratie in Ostdeutschland geringer sind, ist allerdings nicht nur ein Vorurteil, sondern ein durch repräsentative Umfragen erwiesener Fakt. Woran liegt das?

Ich muss hier vielleicht nochmal sagen, dass sehr viele nach der Wiedervereinigung positive Erfahrungen gemacht und die Freiheit für sich und ihre Kinder genutzt haben. Und die große Mehrheit der Menschen im Osten lehnt ja die Demokratie keineswegs ab. Aber viele haben nach 1990 auch schlechte Erfahrungen gemacht – Umbruch, Jobverlust, das Gefühl der Demütigung und Zweitklassigkeit, Enttäuschung. Das Besondere am Osten ist, dass sich viele auf eine Erklärung für ihren Frust einigen können: Der Westen ist schuld. Und mit ihm sein „System“ und seine Institutionen. Und natürlich gibt es auch die, für die die Idee des Sozialismus weiterhin durchaus erstrebenswert ist, auch wenn sie unter Führung der alten weißen Männer um Erich Honecker nicht die beste Umsetzung gefunden habe.

Sie schreiben, dass viele Ostdeutsche sich eine Entschuldigung Westdeutschlands für erlebte Demütigungen und Verletzungen wünschen. Wird es die geben?

Nein. Es wäre ja auch unklar, wer sich da genau bei wem wofür entschuldigen sollte. Es geht höchstens um Anerkennung – dass vieles schwierig war, manches schmerzhaft, dass es Dinge gibt, die nicht gut gelaufen sind, die man besser hätte machen können. Aber ebensowenig wie jeder Ossi ein Opfer der Wiedervereinigung ist, ist jeder Wessi ein böser Mensch, der die armen Ostbürger unterjochen wollte. Das ist ja alles Blödsinn. Ich glaube, es wäre weiterhin gut, miteinander über die Erfahrungen zu sprechen – auch wenn sich die Westdeutschen dafür eigentlich nicht mehr interessieren. Ich schreibe in meinem Buch, dass der Osten es aus sich selbst heraus schaffen muss. Der Westen wird sich kaum bewegen, er wird Aufarbeitung und Selbstheilung aber auch nicht verhindern.

Sie führen seit fast 25 Jahren ein sehr westdeutsches Leben. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Sie mit Ihren Vermittlungsversuchen genau das Gegenteil von dem erreichen, was Sie eigentlich wollen und im Osten zur Reizfigur werden?

Ich führe kein „westdeutsches Leben“. Ich bin in der DDR geboren und durch meine Eltern und ihre Generation eng mit diesem Land verknüpft. Ich bin also ostdeutsch. Aber ich kann ostdeutsch sein, ohne mich über die Abgrenzung zum Westen zu definieren. Ich lebe in der früher geteilten Stadt Berlin, meine Eltern leben in Güstrow, meine Kinder verbringen ihre Ferien dort, ich arbeite in Hamburg – ich lebe im wiedervereinigten Deutschland. Und ich habe in meinem Buch geschrieben, dass ich Kind dieses wiedervereinigten Landes bin – nicht eine Ostdeutsche, die sich in den Westen geschmuggelt hat. Aber tatsächlich wird mir genau das manchmal vorgeworfen. Manche – vor allem Ältere – können genau diese Perspektive nicht anerkennen und glauben, sie könnten mir erklären, wie ich mein Leben zu führen hätte. Mir ist klar, dass ich mit meinen Thesen im Osten auch polarisiere und nicht alle im Osten mich toll finden, bloß weil ich von dort komme.

Der Osten mag Sie also nicht?

Es gibt ja nicht den Osten. Das ist ja eines der Hauptthemen des Buches. Es gibt Millionen unterschiedlicher Erzählungen über ein Leben in der DDR und darüber, was die Vergangenheit mit dem Jetzt zu tun hat. Es gibt einen großen Streit über die Deutungshoheit. Ich werde von Ostdeutschen kritisiert, und ich bekomme von Ostdeutschen sehr viel Zuspruch und Bestätigung.

Sie sind jetzt 44 Jahre alt. Glauben Sie, dass Sie das Verschwinden der Mauer in den Köpfen noch erleben werden?

Ich sehe, dass das Thema für meine Kinder schon jetzt keine Rolle mehr spielt. Ich glaube, wir Mittvierziger können helfen, die Mauer in den Köpfen noch zu unseren Lebzeiten verschwinden zu lassen. Ich versuche, meinen Beitrag zu leisten, aber ich kann nicht garantieren, dass es klappt.

„Tagesthemen“-Frontfrau

Jessy Wellmer (44), in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern geboren, war neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Nach Studium und Journalistenschule moderierte sie viele Sportsendungen wie  die ARD-„Sportschau“ und berichtete im Zuge dessen  von Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften im Fußball. Seit Ende Oktober 2023 moderiert sie die ARD-„Tagesthemen“. Daneben dreht Wellmer Reportagen zur Verständigung zwischen Ost- und West-Deutschland. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in West-Berlin. Ihr neues Buch heißt: „Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können“.

Ist das der neue Umgang mit Migranten?

Wer von Euch, liebe Leser, würde sich so etwas gefallen lassen?

Oder gibt es seit diesem Jahr auch für alle anderen kein Bargeld mehr – dafür aber eine Geldkarte mit Einschränkungen?

OGA vom 03. Februar 2024 ORANIENBURG

Erster Landkreis führt Bezahlkarte im Alleingang ein

Migration

Märkisch-Oderland will das Zahlungssystem für Asylbewerber durchsetzen. Ursprünglich geplant war eine bundesweite Einführung. 

Von Ulrich Thiessen

Der Landkreis Märkisch-Oderland will schneller als vereinbart eine Bezahlkarte für Asylbewerber einführen. Ursprünglich hatte sich die Ministerpräsidentenkonferenz darauf geeinigt, dass die Einführung der Karte bundesweit erfolgen soll. Das dauert dem Landkreis aber offenbar zu lange. Sozialdezernent Friedemann Hanke (CDU) erklärte gegenüber dieser Zeitung, dass die Ausschreibung auf den Weg gebracht wurde. Eine Sondierung ergab, dass es mehrere entsprechende Dienstleister gibt. Er rechnet mit jährlichen Kosten von 24.000 bis 28.000 Euro. Der Landkreis geht davon aus, dass die Karten schrittweise zum 1. April oder 1. Mai eingeführt werden können. Insgesamt wären bis zu 1000 Einzelpersonen oder Familien (Bedarfsgemeinschaften) betroffen.

Hanke betont, dass die Umstellung für seinen Kreis einfacher ist als in allen anderen Gebietskörperschaften. In Märkisch-Oderland wurden als einzigem Landkreis bislang Schecks ausgegeben, die dann bei Banken eingelöst werden müssen. Für die Mitarbeiter wäre die Umstellung laut Hanke eine Entlastung.

Der Sozialdezernent weist darauf hin, dass mit den Karten gewährleistet wird, dass die Berechtigten einmal im Monat in den Behörden erscheinen müssen. Dort soll dann statt der Scheckausgabe die jeweilige Karte aufgeladen werden. Ausgeschlossen sein wird, dass mit der Karte Überweisungen getätigt werden. Auch die Nutzung in Spielhallen sei nicht möglich. Hanke betont, dass die Höhe des Geldes, das bar abgehoben werden kann, gesetzlich geregelt ist und für Einzelpersonen 182 Euro im Monat beträgt. Missbrauch durch den Kauf und Weiterverkauf von Waren sei jedoch nie ganz auszuschließen, räumte der Christdemokrat ein, das habe es auch beim früheren Sachleistungsprinzip gegeben.

Das brandenburgische Sozialministerium erklärte auf Nachfrage, dass ihm keine Verfahren zur Einführung einer Bezahlkarte bekannt seien. Ein Sprecher betonte jedoch, dass die Einführung möglich sei.

Die CDU Oberhavel und der Umgang mit dem Skandal ihres Vorsitzenden

OGA vom 03. Februar 2024 OBERHAVEL

Zurückhaltende Worte zum Kreischef

Personalie

Im Skandal um ihren Vorsitzenden Frank Bommert wird der CDU Oberhavel Schweigen vorgeworfen. Jetzt äußern sich einige Politiker erstmals. Zudem gibt es eine neue Rücktrittsforderung.

Von Marco Winkler

Im Skandal um einen geschmacklosen Whatsapp-Post und eine Lüge von CDU-Landespolitiker Frank Bommert wird der CDU Oberhavel vorgeworfen, zu dem Thema zu schweigen. Jetzt äußern sich auf Nachfrage einige Politiker zum Verhalten ihres Kreisvorsitzenden. Zudem gibt es eine weitere Rücktrittsforderung an den Sommerfelder.

Schon am Montag hatten die Jusos Oberhavel den Vize-Landesvorsitzenden der CDU und Vorsitzenden der CDU Oberhavel aufgefordert, aus allen Funktionen und Mandaten zurückzutreten. Nur ein Rücktritt könne „den entstandenen Schaden am Vertrauen in unsere Demokratie und ihre Akteure noch minimieren“, hieß es. Am Donnerstag schloss sich der Kreisverband der Linken der Forderung an.

Unzufriedenheit drücken die Leute unterschiedlich aus.

Olaf Bechert (CDU) Kreistagsmitglied

Politikern den Tod gewünscht

Bommert greife „immer wieder bewusst Narrative der Rechten“ auf, heißt es in der Pressemitteilung. „Anderen Menschen via WhatsApp-Status den Tod zu wünschen, zeigt eindeutig, dass nun auch Sprache und Methodik aus der ganz rechten Ecke ihren Weg in Bommerts Äußerungen gefunden haben.“ Das Landespräsidium der CDU sprach Bommert einen Verweis aus.

„Für uns ist Bommert schon längst kein Ansprechpartner unter Demokraten mehr, wir hoffen jedoch sehr, dass die CDU Oberhavel ihren Weg zurück in die Reihe der Demokraten findet“, so die Kreisvorsitzenden Enrico Geißler und Patricia Usée. „Ein Kreistagskollege, der auf offener Bühne lügt, schadet dem Ansehen des gesamten Kreistages“, so Linken-Mitglied Ralf Wunderlich. Weiter heißt es in ihrer Mitteilung: „Die Zeit des Wegsehens bei den Eskapaden des Vorsitzenden muss ein Ende haben.“

Genau das ist der Vorwurf, mit dem sich die CDU derzeit konfrontiert sieht. Besonders, nachdem sich die CDU-Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete Nicole Walter-Mundt nicht zu dem Fall äußern oder positionieren wollte. Spielt der geschmacklose Beitrag von Frank Bommert keine Rolle in der CDU Oberhavel?

Andreas Hirtzel, Vorsitzender vom Amtsverband Gransee, sagt auf Nachfrage, die CDU beschäftige sich mit dem Thema. „Es ist allerdings eine persönliche Sache, die nur Frank Bommert betrifft und nicht gesamte CDU.“ Er wolle Bommert erst Gelegenheit geben, sich intern zu äußern.

Jan Alexy, Vorsitzender vom Stadtverband Hohen Neuendorf, setzt ebenfalls auf eine interne Aufklärung. „Es gibt viel Unruhe unter den Mitgliedern, das Thema wird kontrovers diskutiert“, sagt er. Der Stadtverband will am Montag beraten und seine Ergebnisse Richtung Kreisvorstand weiterleiten. „Wir werden deutlich Stellung beziehen“, sagt Alexy. Allerdings vorerst nur intern. „Dort gehört es hin, wir wollen keine emotionale Debatte in der Öffentlichkeit führen.“

Frank Stege, Gransees Amtsdirektor und ebenfalls CDU-Mitglied, betont auf Nachfrage: „Zuerst kann ich die Kritik an der Politik der Ampel, die Frank Bommert und Hunderttausende auf die Straße treibt, sehr gut nachvollziehen.“ Dass Bommert eine Grenze überschritten hat, „sieht er ja selber ein“. Bommert entschuldigte sich und will den Vorsitz des Wirtschaftsausschusses im Landtag niederlegen. Diese Konsequenz hält Stege für richtig. „Ich gehe davon aus, dass sich die Kreis-CDU analog zur Landespartei damit befassen wird.“

Hans-Jörg Pötsch vom CDU-Stadtverband Velten sieht die Zuständigkeit beim Landesverband. „Er wird sich sicherlich noch gegenüber den Mitgliedern äußern“, sagt er. „Dann können wir immer noch sagen, ob die Konsequenzen ausreichen. Wir schweigen jedenfalls nichts tot.“ Pötsch sagt, heutzutage müsse jeder seine Worte mit Bedacht wählen. „Manchmal ist der Gedanke schneller raus, als das Gehirn reagieren kann.“

Bommert in Schutz genommen

CDU-Kreistagsmitglied Olaf Bechert informiert, dass Frank Bommert Thema auf der nächsten Vorstandssitzung der Kreis-CDU sein wird. „Es gibt Redebedarf.“ Er habe sich gefragt, warum Bommert diesen Post mit Todesfantasien veröffentlichte. Seine Antwort: „Er ist mit der Ampelpolitik unzufrieden. Unzufriedenheit drücken die Leute unterschiedlich aus.“ Einige würden demonstrieren, „andere machen Witze“. Bechert räumt ein, dass der vermeintliche Witz zu weit ging. „Das hat er erkannt und diesen schlechten Witz schnell wieder selbst entfernt und damit zurückgenommen.“ Bommert behauptete, ein Familienmitglied sei für die Geschmacklosigkeit verantwortlich gewesen. Eine Lüge, die er Tage später zugab. Warum hat er gelogen? „Auch hier klare Antwort: Weil er wusste, was in der aufgeheizten medialen Stimmung mit Politikern, die auch nur irgendwie heutzutage im bürgerlich-rechten Spektrum unserer Gesellschaft stehen, geschehen wird.“ Lügen sei „grundsätzlich Mist“. Aber: Bommert sei wiederholt zum Kreisvorsitzenden gewählt worden, „weil er so ist, wie er ist“, so Bechert, auch wenn er sich „mitunter forsch“ zeige.