Archiv der Kategorie: Informationen

Schreitet die Verrohung der Gesellschaft voran?

OGA vom 14. März 2024 BRANDENBURG

Jeden Tag zehn schwere Körperverletzungen

Jahresbilanz

Die Gewaltkriminalität ist in Brandenburg zuletzt deutlich angestiegen, laut Polizei auf den höchsten Stand der vergangenen 15 Jahre. Was steckt dahinter? Und wer sind die Täter?

Von Bodo Baumert

Ende April 2023 in Cottbus: Zwei junge Frauen geraten in einem Fast-Food-Restaurant in Streit mit einigen jungen Männern. Erst fliegen die Worte, dann die Fäuste. Eine Frau bekommt einen Schlag ins Gesicht, geht zu Boden. Kurz darauf sind die Angreifer und das Handy der jungen Frau verschwunden.

Anfang September 2023 in Fürstenwalde: Ein Mann mit Stichverletzungen wird auf der Straße aufgegriffen. Er sagt, er sei in Streit mit drei Unbekannten geraten, die Zigaretten von ihm wollten. Dann soll einer der Männer zugestochen haben.

Innenminister beklagt eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft.

Anfang Oktober 2023 in Mühlberg: Ein 20-Jähriger wird tot in seiner Wohnung gefunden. Die Politei geht von einem Tötungsverbrechen aus. Einige Wochen später wird ein anderer Mann verhaftet. Die Polizei ermittelt.

Es sind solche und ähnliche Meldungen der Polizei, die bei Bürgern in Brandenburg zu einem Unsicherheitsgefühl führen können. Ein Unsicherheitsgefühl, das offenbar nicht völlig unbegründet ist. Das zumindest lässt sich aus den Zahlen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) herauslesen, die Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Mittwoch in Potsdam vorgestellt hat.

Bei der Gewaltkriminalität gibt es demnach einen deutlichen Anstieg für das Jahr 2023 zu verzeichnen: um über 17 Prozent. Schwere und gefährliche Körperverletzung zählen darunter, Vergewaltigungen, Raub, räuberische Erpressung, Mord und Totschlag. Zehn gefährliche oder schwere Körperverletzungen weist die Statistik pro Tag in Brandenburg aus, fast jeden Tag einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung.

Auch bei Mord und Totschlag gibt es mehr Fälle. 14 statt neun im Jahr zuvor. Ähnlich bei den Tötungsversuchen. Hier sind es fünf Fälle mehr. Das allerdings lässt sich mit statistischen Schwankungen noch recht gut erklären. Ohnehin gehen die Fälle erst dann in die Statistik ein, wenn sie aufgeklärt werden. Die beiden Morde der Statistik für 2023 sind daher eigentlich aus den Jahren 2015 und 2022.

Auch die Kriminalität insgesamt ist in Brandenburg 2023 gestiegen, um 9,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Beim Diebstahl sind es 10 Prozent mehr, beim Ladendiebstahl 30 Prozent, beim Autodiebstahl 20 Prozent, beim Einbruch 20 Prozent und bei Betrug 5 Prozent.

Die Gewaltfälle nehmen aber eine besondere Stellung ein. Denn während sonstige Straftaten meist auf das Niveau vor der Corona-Pandemie zurückkehren oder teils noch darunter liegen, nimmt die Gewalt auch im Vergleich über einen längeren Zeitraum zu. 5499 Fälle in einem Jahr – das hat es seit 15 Jahren in Brandenburg nicht mehr gegeben.

Auch im Vergleich zum Vorjahr sprechen die Zahlen im Bereich Gewalt eine deutliche Rolle. 13 Prozent mehr gefährliche und schwere Körperverletzungen, 15 Prozent mehr Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen, 30 Prozent mehr Raubüberfälle.

Innenminister Michael Stübgen sieht eine „zunehmende Verrohung der Gesellschaft“ als eine der Ursachen für den Anstieg. „Nach der kompletten Aufhebung von Corona-bedingten Einschränkungen sind die Menschen wieder mobil geworden und fanden sich in Alltagssituationen wieder, die mehr als früher auch durch wirtschaftliche Herausforderungen und soziale Unsicherheiten geprägt waren. All dies führte mutmaßlich zu mehr Tatgelegenheiten und Tatentschlüssen sowie zwischenmenschlichen Konflikten, die sich dann leider auch in der gestiegenen Zahl der Gewaltdelikte widerspiegeln“, ergänzt Polizeipräsident Oliver Stepien bei der Präsentation der Zahlen.

Andere Erklärungsmuster verfangen nicht. Auf den Zuzug von Flüchtlingen lässt sich der Anstieg der Gewalt jedenfalls nicht zurückführen. Betrachtet man die Zahlen der PKS im Detail, wird deutlich, dass die klare Mehrheit der Täter Deutsche sind. Von 314 Vergewaltigungen im Jahr 2023 gehen 28 auf das Konto von Zuwanderern. Bei Körperverletzungen sind es 1500 von 16.500 Tatverdächtigen. Die deutschen Täter sind es auch, die mehrheitlich für den Anstieg der Fallzahlen im vergangenen Jahr verantwortlich sind.

Mehr häusliche Gewalt

Minister Stübgen macht auch auf Gewalt im häuslichen Umfeld und gegen Polizeibeamte aufmerksam. Die registrierten Fälle von häuslicher Gewalt seien um gut acht Prozent auf rund 6300 gestiegen. Immer häufiger sind Kinder und Jugendliche unter den Opfern.

Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte sind laut PKS um sieben Prozent auf fast 1400 Fälle gestiegen. „Das sind mehr als drei Fälle pro Tag“, so der Minister. Stübgen will dagegen weiter vorgehen. „Bei Gewalt gibt es kein Pardon – egal gegen wen sie sich richtet oder wo sie stattfindet. Es ist unsere gesamtgesellschaftliche Pflicht und Aufgabe, entschieden gegen jegliche Formen von Gewalt einzustehen und nicht die Augen zu verschließen“, so der Minister.

Neue Studie soll Polizeistatistik ergänzen

Jedes Jahr im März legen Innenministerium und Polizei in Brandenburg die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) vor. Damit einhergehen Aussagen, wie sicher oder unsicher die Lage im Land geworden ist. Doch kann die PKS diese Frage beantworten?

Um zu verstehen, welche Aussagen man aus der Statistik ableiten kann, muss man zunächst wissen, was die PKS ist. „Bei der Polizeilichen Kriminalstatistik handelt es sich um eine sogenannte Ausgangsstatistik, welche durch die bundeseinheitliche PKS-Richtlinie geregelt wird“, erläutert eine Sprecherin des Polizeipräsidiums in Potsdam. Alle Fälle, die von der Polizei bearbeitet wurden, landen also darin. Was erfasst wird, ist für alle Bundesländer einheitlich festgelegt.

Das heißt allerdings auch: Nur die Verbrechen, von denen die Polizei etwas erfährt, können in die Ergebnisse einfließen. Längst nicht jeder Diebstahl wird aber zur Anzeige gebracht. In manchen Deliktfeldern, etwa bei Betrugsversuchen im Internet, gehen die Betroffenen so gut wie nie zur Polizei. Spam-Mails sind solch ein Fall, die täglich bei fast jedem eingehen und in denen ein Unbekannter Geld oder angebliche Glücksspielgewinne verspricht.

Hinzu kommt: Die Polizeistatistik für Brandenburg kennt nur Fälle aus Brandenburg. Ist der Tatort, also der Ort, von dem aus der Täter seine Tat begeht, hingegen unbekannt oder im Ausland, taucht der Fall in der PKS nicht auf.

Das ist etwa bei Betrugsmaschen wie Enkeltrick oder „falsche Polizisten“ der Fall. Nur bei einem Bruchteil dieser Fälle lässt sich der Tatort eindeutig in Brandenburg festmachen. Der Rest taucht nie in der PKS auf.

Politik und Polizei versuchen deshalb, die PKS durch eine sogenannte „Dunkelfeldstudie“ zu ergänzen. Diese soll aufzeigen, wie die Kriminalitätslage und das Sicherheitsempfinden aus Sicht der Bürger tatsächlich sind. 2020 ist die erste Runde dieser Studie gestartet, aktuell läuft die zweite Runde.

Skid – „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ – heißt die Studie. In den vergangenen Wochen wurden dafür bundesweit mehr als 186.000 Menschen ab 16 Jahren angeschrieben. Auch Brandenburger sind darunter. Die Teilnehmer wurden zufällig ausgewählt. Wer sich bereiterklärt, mitzumachen, bekommt nun einen Fragebogen zugeschickt.

Eine Erkenntnis der ersten Runde 2020 ist laut BKA, dass es erheblich mehr Straftaten im digitalen Raum gibt, als bisher bekannt. Analoge Verbrechen gehen hingegen langfristig zurück.

Hierauf kann die Politik reagieren, etwa indem mehr Cyberpolizisten oder Ermittler eingesetzt werden. bob

Die AfD geht gerichtlich gegen den Verfassungsschutz vor – oder: betroffenene Hunde bellen

OGA vom13. März 2024 POLITIK

„Leicht, sich als Opfer zu stilisieren“

Extremismus

Der Verfassungsschutz warnt schon lange vor der AfD. Geschadet hat es der Partei bislang nicht. Erklärungen von Sozialpsychologin Eva Walther von der Universität Trier.

Von Dominik Guggemos

Die AfD gegen den Verfassungsschutz – das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster gilt als richtungsweisend. Eva Wal­ther, Leiterin der Abteilung Sozialpsychologie an der Universität Trier und Autorin des Buchs „Die AfD – psychologisch betrachtet“, erklärt, welche Rolle die Einstufung als rechtsextremistischer Verdachtsfall spielen könnte.

Frau Walther, inzwischen wird die gesamte AfD vom Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall bewertet. Anfang 2024 stand die Partei in Umfragen trotzdem so gut da wie nie zuvor. Warum interessiert es die Wähler nicht, für wie gefährlich der Verfassungsschutz die AfD hält?

Hier möchte ich widersprechen. Es interessiert einige Wähler nicht – andere hingegen sehr wohl. Für die Gruppe, zu deren Selbstbild es gehört, sich demokratischen Werten zuzuordnen, sind solche normativen Signale sehr wichtig. Zu solchen Signalen zählen die Demos gegen rechts, aber auch die Einschätzung des Verfassungsschutzes. Diese Menschen wollen sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen.

Die AfD behauptet, der Verfassungsschutz schütze die Regierung, nicht das Grundgesetz. Glauben die AfD-Anhänger diese Verteidigung?

Eine zentrale ideologische Denk­figur rechter Populisten ist, dass die Bürger sich in einer Zwangssituation befänden, bedrängt von einer korrupten Elite in Politik und Wirtschaft einerseits und bedroht von Minderheiten, speziell Migranten, andererseits. Es ist sehr leicht, aus dieser Denkfigur heraus abzuleiten: Der Verfassungsschutz als Teil der als korrupt dargestellten Elite beschützt die Regierung. Genauso wie es der AfD leicht fällt, sich bei ihren Anhängern als Opfer solcher Maßnahmen zu stilisieren.

Die Correctiv-Recherche hat im Vergleich zu dem, was der Verfassungsschutz über die AfD gesammelt und veröffentlicht hat, nichts grundlegend Neues ans Licht gebracht. Warum hat die Veröffentlichung trotzdem so viele aufgewühlt?

Remigration wie auch das, was damit gemeint ist, nämlich Deportation, weckt dunkelste Assoziationen, die im kollektiven Gedächtnis tief und sehr negativ verankert sind. Diese Assoziationen erzeugen Furcht.

Wichtig war dabei auch, dass sich Teile der Bevölkerung direkt angesprochen und bedroht gefühlt haben und andere ihre Solidarität zeigen wollten. Schnell kam zudem die Frage auf: Was kann ich jetzt tun, um die Demokratie zu verteidigen? Also gingen viele Menschen auf die Straße.

War die Correctiv-Recherche vor allem für die Motivation der Menschen entscheidend?

Die Veröffentlichung war schnell mit einer klaren Handlungsanweisung verbunden: „Geh auf die Straße und verteidige demokratische Werte“. Und dann haben die Menschen durch die Masse der Demonstrationsteilnehmer gesehen: Schau mal, es ist gar nicht so, dass alle heimlich auf der Seite der AfD stehen. Wenn man sich viel auf den sogenannten sozialen Medien aufhält, kann diese Illusion ja leicht entstehen.

Wie wichtig ist es, dass es nicht nur Demos des urbanen Milieus sind?

Es ist enorm wichtig und auch mutig, dass auch in den ländlichen Regionen demonstriert wurde und wird. Dort kennt man sich, es gibt so gut wie keine Anonymität. In solchen Gebieten dominieren häufig die besonders Lautstarken das Meinungsbild. Denen haben die Menschen mit den friedlichen Demos etwas entgegengesetzt. Zwar ist es grundsätzlich eher niederschwellig, auf die Straße zu gehen, aber ganz ohne Risiko ist es auf dem Land eben nicht, weil man sich kennt. Das muss man unbedingt wertschätzen – und in der medialen Berichterstattung ist das aus meiner Sicht etwas zu kurz gekommen.

Auch mit Blick auf die Einstufung durch den Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall fordern manche ein Verbot der AfD, andere wollen Björn Höcke wichtige Grundrechte entziehen. Wie wirkt das auf AfD-Wähler?

Es liegt nahe, dass das Menschen, die demokratische Werte hochhalten wollen und trotzdem ihr Kreuz bei der AfD machen, schon abschrecken könnte. Wer allerdings bereits stark von der Ideologie der AfD beeinflusst ist, für den sieht es anders aus. Die müssen sich quasi mit-radikalisieren, weil ihr Abstand zur sozialen Norm der Mehrheitsgesellschaft zugenommen hat. Wer sich im Laufe dessen dann einmal normativ von der Mehrheitsgesellschaft verabschiedet hat, ist nur schwer wieder zurückzuholen.

Bundesamt als Behörde

Die AfD klagt gegen die Einstufung als Verdachtsfall und wirft dem Verfassungsschutz vor, auf Anweisung der Innenminister zu handeln. Thomas Haldenwang, Präsident der Behörde seit 2018 ist als politischer Beamter Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unterstellt. Für seine Arbeit ist laut Bundesbeamtengesetz die „fortdauernde Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung erforderlich“. Unabhängige Gerichte kontrollieren die Einstufung der Behörde.

Wie versucht wird, die Gesellschaft zu spalten – ein Erklärungsversuch

OGA vom 12. März 2024 POLITIK

„Die Spaltung wird von oben hineingetragen“

Steffen Mau 

Es gebe nach wie vor eine breite Mitte im Land, sagt der Berliner Soziologe. Auch wenn „Polarisierungsunternehmer“ wie Hubert Aiwanger und Julian Reichelt versuchten, die Gesellschaft auseinanderzudividieren. Was die Menschen triggert – und warum das auch gute Folgen haben kann.

Von Igor Steinle

Er ist der momentan gefragteste Sozialwissenschaftler Deutschlands. Politiker zitieren Steffen Maus Thesen, unzählige Interviewanfragen erreichen ihn täglich, selbst die Bundesregierung hat ihn nach Meseberg eingeladen, um seine auf umfangreichen Datenerhebungen basierende Gesellschaftsanalyse zu hören. Weniger mondän geht es in seinem Büro in Berlin-Mitte zu: Auf dem Tisch stapeln sich Bücher, draußen rattert die S-Bahn vorbei, während Mau uns an einem dunklen Februarabend zwischen E-Mail-Arbeit und Studierendensprechstunde empfängt.

Herr Mau, Tausende Menschen gehen auf die Straße, um gegen Rechts zu demonstrieren. Ist die Demokratie in Gefahr?

Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt.

Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet.

Ich halte das eher für Übertreibung. Wir haben eine stabile Demokratie, die Demonstrationen zeigen ja, dass es eine breite gesellschaftliche Mehrheit gibt, die bereit ist, sie zu verteidigen.

Das entspricht Ihrer zentralen These, dass wir keine gespaltene Gesellschaft sind.

Hier ist eine Mehrheit sichtbar geworden, die sonst eher still ist. Die Mitte ist politisch passiv, sie bildet sich zwar ihre Meinungen, aber tritt nicht öffentlich in Erscheinung. Wir sehen auf der Straße und in den sozialen Medien sonst eher einen radikalisierten Rand, vor allem einen rechten Rand, mit sehr zugespitzten und oft extremen Positionen. Die konnten für sich reklamieren, so etwas wie eine schweigende Mehrheit zu repräsentieren. Und jetzt haben sich die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse öffentlich artikuliert.

Bisher dachte man, die gesellschaftliche Spaltung spiegele sich in der Politik wider.

Nach unseren Beobachtungen ist das nicht der Fall, die Gesellschaft ist nicht gespalten, vielmehr gibt es politische Akteure, wir nennen sie Polarisierungs­unternehmer, die Interesse daran haben, Spaltung zu erzeugen und dann zu bewirtschaften. Die Spaltung wird eher von oben in die Gesellschaft hineingetragen.

Wer sind solche Unternehmer?

Es gibt viele, in der AfD zum Beispiel. Hubert Aiwanger ist auch einer, er pflegt einen spalterischen Diskurs, indem er trennt zwischen denen mit gesundem Menschenverstand und den anderen, die keine Ahnung vom wirklichen Leben haben: die in den Großstädten gegen uns, die wir uns auf dem Land auskennen. Und natürlich gibt es sie auch im medialen Diskurs, Julian Reichelt zum Beispiel ist ein Polarisierungsunternehmer.

Sie haben Triggerpunkte der Gesellschaft ausgemacht, Themen, die sich besonders zur Polarisierung eignen. Welche sind das?

Es gibt rechte und linke Triggerpunkte, aber viel mehr rechte, weil eine gewisse Ressentimentkultur sehr stark über Trigger funktioniert. Das sind vor allem Themen, die sich leicht emotionalisieren lassen. Man kennt das aus dem eigenen Umfeld, es gibt Fragen, da kann man sich mit Freunden oder Familienmitgliedern hinsetzen und sachlich verhandeln und andere, wo man weiß, da geht dem ein oder anderen schnell die Hutschnur hoch. Gendern zum Beispiel, die Heizungsfrage, das Tempolimit, arabische Messerstecher und so weiter.

Dabei ist die Gesellschaft in den vergangenen Jahren über alle Schichten hinweg liberaler geworden. Wie passt das zusammen?

Es geht um Gleich- oder Ungleich­behandlung, wenn man das Gefühl hat, dass bestimmte Gruppen jetzt bevorzugt werden sollen. Die Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Beispiel ist in der gesamten Gesellschaft groß. Aber wenn man das Thema politisiert und sagt, Minderheiten sollen bei Einstellungen bevorzugt werden, dann gehen viele auf die Barrikaden. Auch Verhaltenszumutungen sind ein starker Trigger, zum Beispiel in der Sprache, wenn man den Leuten das Gefühl gibt, ihr müsst jetzt gender­gerecht sprechen.

Warum triggern Themen wie ungleiche Einkommensverteilung nicht?

Die Menschen glauben an Leistungsgerechtigkeit. Es herrscht die Meinung vor, dass die soziale Stellung im Großen und Ganzen nach Leistung und Talent verteilt wird. Dieser Glaube ist auch stark in der Arbeiterschaft verwurzelt, längst nicht mehr nur bei Spitzenverdienern. Reichtum wird nur dann skandalisiert, wenn man das Gefühl hat, dass er unverdient ist oder unmoralische Dinge damit gemacht werden. Der Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt, sondern auf einer horizontalen Ebene, etwa zwischen Einheimischen und Geflüchteten oder Leuten im Niedriglohnsektor und Menschen mit Transfereinkommen. Das sieht man auch daran, dass die größten Vorbehalte gegen die Erhöhung des Bürgergeldes von Leuten mit kleinem Portemonnaie kommen.

Wovon hängt die Triggerbereitschaft ab?

Es sind vor allem Menschen in unteren sozialen Hierarchiepositionen, die in ihrem beruflichen Umfeld wenig Autonomie haben, sozusagen Befehlsempfänger sind, und dann im privaten Bereich Wert auf Autonomie legen. Die sagen: Ich habe in meinem beruflichen Umfeld so wenig Freiheiten, dafür will ich in meiner Freizeit grillen, was ich will, und auf der Autobahn so schnell fahren, wie ich will. Diese privaten Autonomieansprüche sind eine Art Kompensation für fehlende Autonomie im Arbeitskontext.

Sorgt nicht auch der gesellschaftliche Wandel für Überforderung?

Ja, wir nennen das Veränderungserschöpfung: Viele Leute haben das Gefühl, sie kommen nicht mehr mit. Ständig finden Umwertungsprozesse statt, man muss sich permanent umgewöhnen. Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet. Je weiter unten man sitzt, desto mehr hat man das Gefühl, der soziale Wandel überrollt mich. Das muss man bedenken, wenn man Reformprojekte in die Gesellschaft hineinbringt.

Haben solche Triggerpunkte die Politik bereits maßgeblich beeinflusst?

Ja, das bekannteste Beispiel ist sicher Armin Laschets Lachen am Rande der Katastrophe im Ahrtal. In der alten politischen Ordnung, als es noch Stammwähler gab, hätten die das vielleicht nicht gut gefunden, aber sie wären nicht gleich zu einer anderen Partei gelaufen. Heute hat es die CDU wohl ein paar Prozentpunkte und womöglich die Kanzlerschaft gekostet. Ein global einflussreicher Trigger war die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA. Natürlich wussten die Menschen schon vorher, dass es Rassismus gibt, aber das „Ich kann nicht mehr atmen“ hatte eine so kraftvolle Symbolik, dass es weltweit mobilisiert hat. Solche Trigger sind nötig, um Menschen auf die Straße zu bringen.

Reagieren die Demos gegen rechts dann nicht auch auf einen Auslöser?

Auf jeden Fall, die Leute haben schon vorher geahnt, was die AfD im Schilde führen könnte. Die Berichterstattung über dieses Potsdamer Treffen, auch der Ereignischarakter der Veröffentlichung, hat dann aber starke emotionale Reaktionen ausgelöst und die Menschen mobilisiert.

Wenn Polarisierungsunternehmer beharrlich die Konflikte im Land beackern, steuern wir dann nicht dennoch auf eine gespaltene Gesellschaft wie in den USA zu, wo die Lager kaum noch miteinander sprechen können?

Möglicherweise. Triggerpunkte sind so etwas wie Einstiegsfenster in eine gespaltene Gesellschaft. Die allermeisten Leute haben keine Ahnung von Parteiprogrammen, sondern ein diffuses Verhältnis zur Politik und zugleich ausgeprägte Vorstellungen von richtig und falsch. Das Politische ist für sie eine Art Nebelwand. Da sitzen viele Leute in kleinen Booten, und die Polarisierungsunternehmer blinken mit ihren Triggerpunkten, die wie Positionslichter im Nebel funktionieren. Dann heißt es hier Gendern, dort Messerstecher und da Lastenfahrrad und die Boote bewegen sich dorthin, wo ihre Leute sind. Wenn sich der Nebel dann lichtet, ist die Flotte plötzlich in zwei Gruppen aufgeteilt, die ein ganzes Stück Abstand voneinander haben.

Bieten Triggerpunkte dann nicht auch Orientierung? Beispiel Gendersprache: Wenn 60 bis 80 Prozent der Menschen sagen, sie fühlen sich bevormundet, ist es dann nicht demokratisch, das aufzugreifen?

Das eine wäre, das Thema mitzubearbeiten. Das andere ist, es in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, wie es etwa der ehemalige CDU-Chef in Hamburg, Christoph Ploß, gemacht hat, der das Thema rund um die Uhr bespielte. Natürlich ist es verlockend, aus dem Kulturkampf Honig zu saugen. Aber wer solche Themen zu intensiv beackert, feuert Konflikte an, die eigentlich nachrangig sind.

Menschen lassen sich auch deshalb leicht triggern, weil sie erregbarer geworden sind. Warum ist die Republik nervös geworden?

Das hat sicher damit zu tun, dass die Leute nur eine begrenzte Verarbeitungskapazität für Veränderungen haben. Durch die Digitalisierung in der Arbeitswelt muss man sich ständig neu justieren, dann kommt die Migration, dann Corona, dann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Man kann nicht unbegrenzt viel Veränderung in einer Biografie verarbeiten. Gerade im Osten ist die Veränderungserschöpfung deshalb noch größer als in Westdeutschland. Viele Leute treten auf die Bremse und wollen an dem festhalten, was ist.

Welche Rolle spielt der Vertrauensverlust in die Institutionen?

Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität. Warum setzen wir uns ins Auto und fahren los, ohne vorher unter die Motorhaube zu schauen? Weil wir darauf vertrauen, dass die Ingenieure das Auto so konstruiert haben, dass es funktioniert. Wenn wir anfangen, unter die Motorhaube zu schauen, haben wir kein Vertrauen mehr in die Firma, die das Auto herstellt. In der Politik wird inzwischen unter die Motorhaube geschaut.

Weil der Staat oft dysfunktional erscheint?

Vor 20 Jahren ist man ins Ausland gefahren und hat gesehen, wie gut in Deutschland eigentlich alles funktioniert. Heute kommt man zurück und stellt fest, hier funktioniert immer weniger. Und damit meine ich nicht nur die Bürgerämter in Berlin. Wenn Kinder ihr eigenes Klopapier in die Schule bringen müssen oder nach einem Todesfall in der Familie wochenlang die Krematoriumsplätze ausgebucht sind, dann fallen selbst Wohlmeinende irgendwann vom Glauben ab.

Triggern bestimmte Themen Sie auch?

Absolut. Gerade Aiwanger und sein Umgang mit diesem Flugblatt, das hat mich schon extrem geärgert. Gar nicht, dass er das als Jugendlicher gemacht hat, sondern dass er so nonchalant und ohne Problembewusstsein darüber hinweggegangen ist. Das war für mich ein Trigger. Auch, weil er bei der nächsten Wahl dafür auch noch Zuspruch erhalten hat.

Was raten Sie der Politik, wie man der Spaltung entkommen kann?

Ich mache eher die sozialwissenschaftliche Analyse und keine Politikberatung im engeren Sinne. Die Schlussfolgerungen muss die Politik selbst ziehen.

Kindheit im Plattenbau

Steffen Mau (Jahrgang 1969), gebürtig aus Rostock, wuchs als Sohn einer Ärztin und eines Abteilungsleiters im Schiffbau in einem Plattenbauviertel auf. Nach einer Lehre im VEB Schiffselektronik Rostock verzichtete Mau auf den ihm zugewiesenen Studienplatz in Mathematik und Physik. Erst nach der Wende studierte er seine Wunschfächer Soziologie und Politik an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 ist er Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität.  Sein Herkunftsviertel und die ostdeutsche Transformationsgesellschaft porträtierte der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler 2017 in „Lütten Klein“. Zuletzt erschien das hoch gelobte Buch „Triggerpunkte“  bei Suhrkamp.

Kneipenfest in Oranienburg am 23.03.2024

OGA vom 06. März 2024 OBERHAVEL

Neue Locations und Bands

Musik

Das Kneipenfest feiert 2024 in Oranienburg seine 16. Auflage. Neun Bars und Restaurants beteiligen sich, darunter einige zum ersten Mal. Alle Infos zu den Orten, Bands und Bus-Verbindungen.

Von Marco Winkler

Während der Corona-Pandemie wurde aus der Kneipennacht das Kneipenfest. Drei Jahre musste die Veranstaltung pausieren, um sich 2023 zwar nicht neu zu erfinden, aber zumindest wieder aufzuerstehen. 2024 wird die 16. Auflage des Kneipenfestes gefeiert – mit neuen Akteuren und Lokalen. Alle wichtigen Informationen im Überblick.

Das Oranienburger Kneipenfest findet am Sonnabend, 23. März, statt. In insgesamt neun Locations gibt es Live-Musik zwischen 20 und 2 Uhr. Neu dabei ist erstmals das Kulturhaus Friedrich Wolf in Lehnitz sowie die Altstadtklause unter dem neuen Betreiber Adrian Wittstock. Das Sportlerheim des Oranienburger FC Eintracht – ehemals „Zum Anstoß“ – beteiligt sich ebenfalls erstmals unter neuem Namen („OranienHeimat“) und mit neuen Betreibern.

Vom Goove Eric Claptons bis zur Partyband für alle Fälle.

Ticket-Preise und Bus-Shuttle

Das Motto der Kneipen-Tour mit Live-Musik ist gleichgeblieben: „Nur einmal bezahlen – überall dabei sein!“ Die Karte kostet 15 Euro und ist ab 19 Uhr in allen teilnehmenden Lokalen erhältlich. Das Tickt gilt nicht nur für sämtliche Veranstaltungsorte, sondern auch für den extra eingerichteten Bus-Shuttle, der zwischen 20 und 2 Uhr sämtliche Lokalitäten im 15-Minuten-Takt ansteuert. Erstmals gilt wieder ein Sonderfahrplan.

Veranstalter Thomas Schmidt von der „Kneipenfestagentur“ bewirbt die Live-Performances auf seiner Seite wie folgt:

Altstadtklause, Havelstraße 16 Band: Hiatus Filler, Beschreibung: „Druckvolle Mittelaltermugge mit dem Trio Hiatus Filler, bestehend aus Bramboris, Tatzus und Motte.“

Café Sport Live, Mittelstraße 15 CATlooovSKYYY, Beschreibung: „Ein Musikerpärchen mit großer Spielfreude und der Liebe zu grooviger und tanzbarer Musik. Es wird ein Menü aus Schlagern und Titeln der Soul-, Disco- und Pop-Ära der 70er- über die 80er-Jahre bis in die heutige Zeit serviert.“

Gaststätte Weidengarten, Adolf-Mertens-Straße 13 Jürgen Gehrhardt & The TB Session Band, Beschreibung: „Die TB-Session-Band hat sich den Rock- und Bluesklassikern verschrieben und interpretiert die Songs im eigenen Stil. Es entsteht eine Mischung aus der Ruhe von J.J. Cale, aus dem Groove von Eric Clapton, aus der Gelassenheit von Joe Cocker und dem Wahnsinn der Stones.“

Kulturhaus Friedrich Wolf Lehnitz, Friedrich-Wolf-Straße 31 TOR11, Beschreibung: „Drei gestandene Männer, bei denen man das Gefühl hat, dass sie nie erwachsen werden wollen. TOR11 aus Potsdam spielt viel Deutschrock, gewürzt mit aktueller Partymusik und Oldies. Tanzen, singen und feiern sind garantiert.“

Milchbar, Bernauer Straße 62 Whiskey Milk & Water, Beschreibung: „Echte Vollblutmusiker, bei denen nicht allein die Musik, sondern auch die Leidenschaft und der Spaß zählen! Das Publikum kann sich auf eine musikalische Bandbreite von kräftigem Blues und ‚leichter Kost‘ hin zu rockigen Stücken und vielen Oldies freuen.“

OranienHeimat, André-Pican-Straße 41A

Silverlakeband, Beschreibung: „Die vier Musiker feiern mit ihrem Publikum eine tolle Rock-Show. Hier gibt es Songs von Oasis, Lindenberg, Depeche Mode, Foo Fighters und und und. Eine Band mit Wiedererkennungswert!

Oranjehus, Clara-Zetkin-Straße 31 (als Festival innerhalb des Festivals mit drei Live-Acts angedacht) Insane – Aggi & Paul, Beschreibung: „Von Rock, Pop, Schlager über NDW, mal laut, mal leise, emotional, rockig oder gefühlvoll.“ Dominic Merten, „Multi-Instrumentalist und Sänger, interpretiert mit Gitarre, Mikrofon und LoopStation eigene Songs und Coverversionen.“ Repolished, „Klassiker und aktuelle Songs in modernem, rockigem und tanzbarem Sound. Ihre eigenen Songs sind dem Alternative-Rock und Pop-Punk zuzuordnen.“

Restaurant & Pension Sonnenburg, Robert-Koch-Straße 67

Hot Cantina, Beschreibung: „Mandy am Schlagzeug, Kuddel an der Rhythmusgitarre, Armin an der Leadgitarre und Steven am Kontrabass sind Hot Cantina aus Oberhavel. Die genreübergreifenden Songs reichen von Country über Rock bis hin zu Blues und Schlager, dabei werden diese in einem ganz eigenen Stil gecovert, welcher durch den Kontrabass charakterisiert wird.“

Schweizer Haus, Brieseweg The Wilbury Clan, Beschreibung: „Zu alt für Techno – zu jung für Volksmusik? Dann sind Sie bei The Wilbury Clan genau richtig! Stellen Sie sich eine Mischung zwischen Boss Hoss, den Ärzten, Santiano und Smokie vor – gemixt mit Eigenem und Spaßrock. Kurzum: Die Partyband für alle Fälle!“

Bus-Shuttle – alle Haltestellen

2024 gibt es einen festen Fahrplan, die Bustour startet um 19.45 Uhr am Bahnhof Oranienburg

Busse fahren im 15-Minuten-Takt

Shuttle ist im Ticket-Preis inbegriffen

Die Haltestellen: Bahnhof Oranienburg (Milchbar, Café Sport Live), Chausseestraße/McDonalds (Weidengarten), Clara-Zetkin-Straße/gegenüber vom Oranjehus, Havelstraße (Altstadtklause), Robert-Koch-Straße (Sonnenburg), Friedrich-Wolf-Straße Lehnitz/Kreisverkehr (Kulturhaus), Brieseweg (Schweizer Haus), André-Pican-Straße (OranienHeimat), Bahnhof Oranienburg

 Der letzte Bus fährt um 1.15 Uhr am Bahnhof ab.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen (3)?

OGA vom 29. Februar 2024 ORANIENBURG

CDU will Arbeitspflicht für Flüchtlinge

Migration

Im Landkreis Elbe-Elster gibt es bereits Erfahrungen mit Einsätzen in Heimen.

Von Ulrich Thiessen

Potsdam. Der brandenburgische CDU-Chef Jan Redmann spricht sich dafür aus, im ganzen Land Asylbewerber zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten. Im entsprechenden Bundesgesetz ist dies für einige Stunden pro Tag bei einer Aufwandsentschädigung von 80 Cent je Stunde vorgesehen.

Im thüringischen Saale-Orla-Kreis haben entsprechende Pläne für Schlagzeilen gesorgt. Dabei gibt es bereits Erfahrungen in Brandenburg, im Landkreis Elbe-Elster. Dort können die Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften beim Sozialamt entsprechende Anträge stellen.

Laut Auskunft eines Sprechers der Verwaltung sind für drei Gemeinschaftsunterkünfte und einen Wohnverband 103 Plätze beantragt worden. Aktuell sind 70 Bewohner zu entsprechenden Einsätzen verpflichtet. Allerdings ist der Versuch aufgegeben worden, Asylbewerber auch außerhalb der Heime zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten.

Vom Deutschen Landkreistag wurde inzwischen die Forderung laut, die Gemeinnützigkeit aus dem Gesetz zu streichen. Damit könnten Asylbewerber auch in der Wirtschaft eingesetzt werden.

Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) sprach von einer Schein­debatte, die das Bild von arbeitsscheuen Flüchtlingen transportieren solle. Es müsse vielmehr darum gehen, Geflüchtete schnell in reguläre Arbeit zu bringen, erklärte sie.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen (2)?

OGA vom 29. Februar 2024 POLITIK

Forderung nach Arbeitspflicht über Gemeinnützigkeit hinaus

Geflüchtete

Immer mehr Menschen bitten um Aufnahme in Europa. Über die Frage, wer von ihnen arbeiten darf oder muss, ist eine neue Debatte entbrannt. Hintergrund ist ein Vorstoß der Kommunen.

Von André Bochow

Berlin. 1,14 Millionen Menschen haben 2023 in der EU einen Asylantrag gestellt. Das geht aus dem Jahresbericht der EU-Asylagentur (EUAA) hervor. Gegenüber dem Vorjahr war das ein Anstieg um 22 Prozent. Fast ein Drittel der gestellten Anträge, nämlich 334.000, nahm Deutschland entgegen. Doch Europa hatte 2023 noch mehr Herausforderungen zu bewältigen. „Denn rund 4,4 Millionen Vertriebene aus der Ukraine erhalten ebenfalls vorübergehenden Schutz“, heißt es bei der EUAA. Nachdem immer wieder über die niedrige Beschäftigungsquote von Ukrainern hierzulande diskutiert wurde, rücken derzeit wieder Asylbewerber und Geduldete in den Blickpunkt. Schon im vergangenen Herbst forderten die Ministerpräsidenten der Bundesländer eine Arbeitspflicht für Geflüchtete.

Nun legte der Deutsche Landkreistag nach. Sein Chef Reinhard Sager verlangte in der „Bild“ die Ausdehnung der Arbeitspflicht über gemeinnützige Tätigkeiten hinaus. Die Bundesregierung möge auch eine Verpflichtung zur Arbeit in privaten Unternehmen ermöglichen. „Die finanzielle Unterstützung vom Staat darf nicht bedingungslos sein“, sagte Sager.

Im Asylbewerberleistungs­gesetz heißt es: „Arbeitsfähige, nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, sind zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet“. Pro Stunde gibt es für die entsprechenden gemeinnützigen Tätigkeiten 80 Cent, Verweigerung wird finanziell sanktioniert. In der Praxis wird von der Möglichkeit selten Gebrauch gemacht.

Deswegen erregt nun ein Vorstoß aus dem Saale-Orla-Kreis die Gemüter. Bekannt wurde der Landkreis durch den knappen Ausgang der Landratswahl im Januar. Christian Herrgott (CDU) schlug dabei den AfD-Bewerber Uwe Thrum. Herrgott will nun Asylbewerber zu täglich vier Stunden Arbeit verpflichten. Zunächst werde gemeinnützige Arbeit für Freiwillige angeboten. „Die Geflüchteten sollen selbst davon profitieren, dass sie eine sinnstiftende Tätigkeit haben, die ihnen den Alltag strukturiert“, sagte ein Sprecher des Kreises.

Nicht alle dürfen arbeiten

Kritik an dem Vorgehen kommt aus allen Richtungen. Der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer hält die Maßnahmen für „rein homöopathisch“. Dagegen moniert Linkspartei-Chefin Janine Wissler, der Zwang zur Arbeit sei „menschenunwürdig“ und „Lohndumping“. Thüringens Integrationsministerin Doreen Denstädt (Grüne) wirft dem Landrat vor, das „falsche Narrativ von den arbeitsscheuen Geflüchteten“ zu bedienen. Dabei würden die meisten arbeiten wollen, scheiterten aber an Arbeitsverboten und Bürokratie. Tatsächlich dürfen Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts und in der Zeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung nicht regulär arbeiten. Auch Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten bekommen keine Arbeitserlaubnis.

Asylbewerber als billige Arbeitskräfte einsetzen?

OGA vom 29. Februar 2024 BRANDENBURG

Arbeiten für 80 Cent pro Stunde

Flüchtlinge

Ein Landkreis in Thüringen startet mit einer Arbeitspflicht für Asylbewerber. Im Süden Brandenburgs wird das bereits praktiziert. Wie sieht es in anderen Regionen der Mark aus?

Von Ulrich Thiessen

Der Saale-Orla-Kreis in Thüringen machte zu Beginn des Jahres Schlagzeilen, als ein CDU-Kandidat sich in der Stichwahl nur äußerst knapp gegen einen AfD-Politiker behaupten konnte. Nun macht der neue Landrat, Christian Herrgott (CDU), bundesweite Schlagzeilen mit der Initiative, Asylbewerber zu Arbeitseinsätzen einzusetzen.

Für vier Stunden am Tag sollen sie Flächen rund um Gemeinschaftsunterkünfte pflegen. Die ersten Arbeitseinsätze laufen auf Freiwilligenbasis, theoretisch wären aber auch Verpflichtungen und Leistungskürzungen bei einer Weigerung möglich.

Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen, wurde schon versucht.

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür gibt es schon lange. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht dafür eine Aufwandsentschädigung von 80 Cent je Stunde vor. Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, geht nun einen Schritt weiter. Gegenüber „Bild“ sprach er sich dafür aus, die Arbeitspflicht nicht nur auf gemeinnützige Tätigkeiten zu beschränken, sondern Asylbewerber auch in der Wirtschaft einzusetzen. Gegenüber dem „Spiegel“ nannte er die Gastronomie als Einsatzfeld. Dazu müsste jedoch das entsprechende Bundesgesetz geändert werden.

Olaf Schöpe, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Brandenburg, kann sich verpflichtete Asylbewerber in seinem Gewerbe nicht vorstellen. Wenn, dann sollten Einzelne die Möglichkeit bekommen, ein Praktikum zu machen, um dann angelernt und integriert zu werden.

Sind dann verpflichtende gemeinnützige Arbeitseinsätze auch in Brandenburg zu erwarten? Jan Redmann, CDU-Landesvorsitzender, verspricht sich von solchen Maßnahmen einen doppelten Effekt. „Zum einen können wir das Miteinander von Einheimischen und Geflüchteten in unseren Kommunen verbessern. Zum anderen würde eine sinnstiftende Aufgabe Geflüchteten helfen, ihren Alltag besser zu strukturieren“ argumentiert Redmann. Außerdem sei es von Vorteil beim Spracherwerb. Der Christdemokrat verweist auf den Landkreis Elbe-Elster, wo sein Parteifreund Christian Jaschinski als Landrat bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt habe.

Das, was im Saale-Orla-Kreis jetzt mit viel Aufmerksamkeit bedacht wird, ist im Süden Brandenburgs geübte Praxis. Torsten Hoffgaard, Sprecher der Kreisverwaltung von Elbe-Elster berichtet, dass die Betreiber von Gemeinschaftsunterkünften beim Sozialamt einen Antrag stellen und dann entsprechende Vereinbarungen eingehen. So wurden für die Gemeinschaftsunterkunft Hohenleipisch 24 Bewohner zu Arbeitseinsätzen verpflichtet. In Doberlug-Kirchhain sind es 30 und in Elsterwerda 2.

Hoffgaard berichtet, dass es 2021 auch den Versuch gab, Asylbewerber außerhalb ihrer Unterkünfte einzusetzen. Es habe teilweise keine Akzeptanz an den geplanten Arbeitsorten gegeben, teilweise wurde Widerspruch gegen die Arbeit eingelegt oder es wurden Arbeitsunfähigkeitsschreiben vorgelegt. Letztlich, so der Sprecher, habe sich der Aufwand nicht gelohnt.

Daniel Kurth (SPD), Landrat im Barnim und stellvertretender Vorsitzender des Landkreistages kann sich so etwas in seinem Kreis nicht vorstellen. Ziel müsse es sein, Flüchtlinge so schnell wie möglich in reguläre Arbeit zu bringen, bei der sie auch eigenes Geld verdienen. Einsätze zum Straßenfegen und in Parks würden nur wie in den 90ern wieder zu Debatten führen, dass Flüchtlinge den angestammten Mitarbeitern die Arbeit wegnehmen.

Karina Dörk (CDU) Landrätin der Uckermark, hat ebenfalls Vorbehalte, Asylbewerber zur Arbeitseinsätzen zu verpflichten. Man solle sich da nicht eine Gruppe an Leistungsbeziehern herausgreifen. Wenn, dann sollte das Thema breiter diskutiert werden. Auch in Brandenburg an der Havel gibt es keine Pläne, Flüchtlinge zu Arbeitseinsätzen zu verpflichten, heißt es aus dem Rathaus der Domstadt.

Gernot Schmidt (SPD), Landrat von Märkisch-Oderland, will sich nicht an einer solchen Debatte beteiligen. Sein Landkreis konzentriert sich als erster in Brandenburg auf die Einführung einer Bezahlkarte für Asylbewerber in Brandenburg. Schmidt befürchtet, dass es bei einer Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit in einzelnen Kreisen und eventuellen Sanktionen dazu kommt, dass die Betroffenen hin- und herziehen und viele in die Illegalität nach Berlin abwandern, wo seiner Kenntnis nach schon heute viele schwarz arbeiten.

Hilfskräfte beim Waldumbau?

Sozial- und Integrationsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) warnt derweil vor einer Diskussion zur Arbeitspflicht, die nur die falsche These von „arbeitsscheuen“ Geflüchteten transportieren würde, wie sie betont. „Wir brauchen keine Scheindebatten, sondern endlich einen echten Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Geflüchtete müssen schneller und unbürokratischer Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Und wir brauchen noch mehr Unternehmen, die Asylsuchende und Geduldete beschäftigten“, erklärte Nonnemacher.

In diesem Zusammenhang hat Barnims Landrat Daniel Kurth einen Vorschlag. Er verweist auf den hohen Arbeitskräftebedarf beim Waldumbau. Er könnte sich vorstellen, Asylbewerber als Hilfskräfte auf diesem Gebiet einzusetzen, wo das Land ohnehin nicht ausreichend Waldarbeiter einsetzen kann. Dann, so Kurth, aber nicht zwangsverpflichtet für 80 Cent die Stunde, sondern mit einem Lohn, der sie von Leistungsbezügen unabhängig macht.

Asylsuchende und Flüchtlinge in Brandenburg

OGA vom 27. Februar 2024 BRANDENBURG

Zugewandert wird vor allem im Speckgürtel

Migration

In Brandenburg leben derzeit so viele Ausländer wie nie zuvor. Es sind nicht nur Flüchtlinge. Menschen kommen auch, um hier zu studieren oder zu arbeiten. Nicht wenige zahlen Steuern.

Von Janine Reinschmidt

Noch nie haben so viele Menschen aus dem Ausland in Brandenburg ein neues Zuhause gefunden. Seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hat sich der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Brandenburg von knapp 88.000 auf 198.000 (31. März 2023) mehr als verdoppelt. Aktuell beträgt der Ausländerteil in Brandenburg rund sieben Prozent.

Im bundesweiten Vergleich sind zwischen Havel, Spree und Oder dennoch wenige Ausländer registriert. Nordrhein-Westfalen liegt mit über drei Millionen Ausländern, das sind 15,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf Platz 1. Die wenigsten Zugezogenen aus dem Ausland, knapp 116.000, verzeichnet hat das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Das entspricht einem Ausländeranteil von 6,5 Prozent.

Mit der Nähe von größeren Städten verbindet sich die Hoffung auf Arbeit.

Dass sich das Zusammenleben im Alltag schwierig gestaltet, weiß Doris Lemmermeier, Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg. Warum ist das so?

Probleme entstünden unter anderem in Alltagssituationen. Ein Klassiker sei die Begegnung an der Supermarktkasse mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen. Kopfschütteln oder genervte Kommentare wie „Können die kein Deutsch?“ seien keine Seltenheit. Ganz zu schweigen von der Diskriminierung, die stattfindet.

Für die Zugezogenen, die sich integrieren wollen, mangelt es aber zum Teil an Sprachkursangeboten. Hier trage die Politik Schuld. „Vor allem Menschen, die auf dem Land leben, sind benachteiligt“, erklärt Doris Lemmermeier. Dort seien die Angebote spärlich.

Ein weiteres Problem sieht sie im Umgang mit dem Begriff „Ausländer“. Viele setzen den Begriff Ausländer mit Flüchtlingen oder Asylbewerbern gleich. Dabei haben lediglich 30 Prozent der Ausländer in Brandenburg einen Flüchtlingsstatus.

Eine mangelhafte Integration hängt nicht nur von fehlenden Sprachkursen ab. Sie liegt oft in vielen bürokratischen Hürden begründet. Etwa der Anerkennung der Abschlüsse oder die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, die für die Aufnahme einer Arbeit Voraussetzung ist. Dass eine unbürokratische Integration in den deutschen Arbeitsmarkt theoretisch möglich sein kann, zeigt der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine. Tausende Schutzsuchende sind in den vergangenen zwei Jahren aus der Ukraine nach Brandenburg gekommen. Ihnen wurde, anders als bei Flüchtlingen gewöhnlich, ein direkter Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt.

Doch es ist nicht immer die Flucht vor einem Krieg, einer humanitären Katastrophe oder einer Verfolgung, die Menschen zwingt, ihr Land zu verlassen. In Brandenburg leben eben auch die, die zum Studieren oder Arbeiten hergekommen sind. Letzteres betreffe vor allem die polnische Bevölkerung. „Entgegen dem Stereotyp zahlen viele Ausländer Steuern und die meisten Flüchtlinge wollen so schnell wie möglich arbeiten, dürfen es aber oft nicht“, sagt Doris Lemmermeier.

Zudem denkt die Integrationsbeauftragte auch an jene, die Deutschland wieder verlassen. Das bedauere sie. „Wir sind auf Zuwanderung im Land angewiesen“ – gerade im Hinblick auf den anhaltenden Fachkräftemangel. Nach Angaben des IHK- „Fachkräfte Monitor Brandenburg“ wird die Zahl der fehlenden Fachkräfte von 56.000 (Stand 2019) auf 90.000 (berechnet für das Jahr 2030) steigen.

Wie aber gehen die Ämter und Behörden mit dem stetigen Anstieg der Zugezogenen aus dem Ausland um? Kommen die Ausländerbehörden an ihre Grenzen? Kora Kutschbach, Pressesprecherin der Stadt Frankfurt (Oder), berichtet, dass die steigende Zahl ausländischer Menschen spürbar sei. Von einer Überforderung könne aber keine Rede sein. Um dem Anstieg der Ausländerzahl personell gerecht zu werden, habe die Stadtverwaltung entschieden, eine weitere Stelle in der Ausländerbehörde einzurichten.

Juliane Güldner, Pressesprecherin der Stadt Potsdam, teilt mit, dass die Ausländerbehörde stark belastet sei. Dies wirke sich auf Kunden und Mitarbeitende aus. „Betroffene müssen sich auf Terminvorlaufzeiten von bis zu drei Monaten sowie längere Bearbeitungszeiten bei der Prüfung von Aufenthalts- und Erwerbsrechten einstellen.“

Dass gerade Großstädte von einem enormen Anstieg Zugezogener aus dem Ausland betroffen sind, ist nach Ansicht von Doris Lemmermeier kein Zufall. Die Nähe zur Stadt sei bei der Wohnortswahl entscheidend. „Die Menschen erhoffen sich dort einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt“, erklärt sie.

Weniger Zugezogene am Rande

Mit fast 25.000 Zugezogenen aus dem Ausland (Stand 31. August 2023) hat Potsdam die meisten Ausländer. Dicht gefolgt von der Stadt Cottbus und vom Landkreis Oder-Spree. „Als Grund anzunehmen ist dafür der Sitz der Zentrale Ausländerbehörde (ZABH) in Eisenhüttenstadt“, sagt Doris Lemmermeier. Die Randgebiete in Brandenburg, wie etwa der Landkreis Elbe-Elster (3775 Ausländer) oder die Prignitz (4910 Ausländer) verzeichnen die wenigsten Zugezogenen.

Weiterhin zeigt sich, dass der Speckgürtel bei Ausländern attraktiv ist. Er bietet neben einer raschen Stadtanbindung in Richtung Berlin und Potsdam Ruhe und Erholung im Grünen.

Unterschied zwischen Asylsuchenden und Flüchtlingen

Asylsuchende suchen Schutz vor unter anderem politischer Verfolgung nach Art. 16a GG oder suchen internationalen Schutz nach der entsprechenden Richtlinie der EU. Die Gewährung des Asylstatus führt zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Demnach sind Flüchtlinge ausländische Personen, die bereits einen Status erhalten haben. Das Asylverfahren ist abgeschlossen. Entscheidend für den Flüchtlingsstatus ist jedoch, dass eine Verfolgung nachgewiesen werden kann.

Der rechtliche Unterschied führt zu unterschiedlichen festgelegten Behandlungen, Leistungen und Ansprüchen.

Kampagnen der AfD und warum diese gerade im Osten fruchten…?

OGA vom 23. Februar 2024 BRANDENBURG

Sprüche, Strategien,Stimmenfang

Wahlkampf

Welche AfD-Losungen ziehen bei Wählern und was läuft falsch bei anderen Parteien in Deutschland? Ein Gespräch über politische Kommunikation mit Berater Mathias Richel.

Von Nancy Waldmann

Mathias Richel stammt aus Frankfurt (Oder) und berät Verbände, Organisationen, Marken und Parteien bei ihrer Kommunikation. Mehrere Wahlkämpfe für die SPD hat er begleitet. Er spricht darüber, was an den Kampagnen der AfD clever ist und warum die Regierenden den Rücken gerade machen sollten.

Herr Richel, über die Kampagnen der AfD haben Sie gesagt, dass die gut gemacht sind. Warum ziehen die?

Sie treffen das Stimmungsbild vieler Menschen. In diesen konfusen Zeiten eint uns eine große Überforderung, die bis ins Private hineinreicht. Seit der Pandemie haben wir Krisen, die direkt unsere eigene Lebenswelt betreffen: der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die steigenden Energiekosten, der Klimawandel. Die Leute entwickeln da ein großes Ohnmachtsgefühl, weil sie daran nichts ändern, egal wie sehr sie arbeiten und sich anstrengen. Das sorgt für große Unsicherheit. Früher galt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern besser geht als mir‘. Heute gilt der Satz: ‚Ich möchte, dass es meinen Kindern wenigstens noch so gut geht wie mir‘. Das zeigt die immense Werteverschiebung. Wenn die AfD dann verspricht „Deutschland, aber normal“, dann lockt sie die Menschen in eine Nostalgiefalle.

Nach dem Motto „früher war alles besser“. Dabei war ja gerade in Brandenburg, wo Sie aufgewachsen sind, vieles früher gerade nicht besser.

Ich glaube, es geht um Vereinfachung. Um ein Zurück in die alte Zeit – das verspricht Klarheit, bekannte und geordnete Verhältnisse. Was trennt uns davon? Klar: Migration, Feminismus, LGBTQ, veränderte Sprache – das erzählt die AfD und das ist hochwirksam. Weil sie verspricht, dass es in der Vergangenheit Sicherheit gibt. Aber dahin können wir nicht zurück.

„Deutschland, aber normal“ war die Losung zur Bundestagswahl 2021. Ein Teil der aktuellen Krisen kam jedoch erst danach.

Ja, seitdem hat sich die Stimmung, die zu solch einer Kampagne führt, verstärkt. Seitdem kam der Ukraine-Krieg dazu, die Energieknappheit. Der Wunsch ist größer geworden, all das Schwierige, das daraus folgt, aufzulösen. Die AfD zieht diese Kampagne aus dem damaligen Wahlkampf auch in ihrer jetzigen Wortwahl weiter durch.

Hätten sich andere Parteien etwas abgucken können von der AfD-Kampagne?

Bloß nicht, man sollte nicht AfD-Debatten nachspringen. Ich glaube auch nicht, dass man den harten Wählerkern der AfD zurückholt. Aber trotzdem hätten die anderen Parteien etwas anders machen müssen. Man darf nicht über die Komplexität und das Belastungsgefühl hinaus selbst noch belastend wirken.

Heißt das, man sollte als Politiker nicht darüber sprechen, was man Bürgern abverlangt?

Die Kommunikation der Ampel-Parteien ist schlecht, und zwar deshalb, weil man immer das Gefühl hat, sie wollen noch mehr belasten. Sie argumentieren mit Zahlen und Zielen, die für viele Menschen außerhalb ihrer Lebenserwartung liegen. Zu Hause brennt es, das Geld zerrinnt mir zwischen den Fingern und da soll ich meine Ölheizung rausreißen, damit in 25 Jahren nicht ein Klima-Kipppunkt erreicht wird – so kommt das in etwa an. In Politik und medialer Debatte wurde diese Überforderung nicht ernst genommen. Die Politik kann die Komplexität zwar nicht auflösen, muss diese aber vielmehr erklären.

Wie könnte denn die Kommunikation über Klimaziele am Küchentisch konkret aussehen? Wirtschaft und Konsum klimaneutral zu machen, wird wahrscheinlich nicht ohne Einbußen gehen.

So blöd es klingen mag, aber die Fragen, die beantwortet werden müssen, sind: ‚Was habe ich davon? Was macht das mit meinem Kontostand?‘ Wir haben einen sehr abgenutzten Begriff von Solidarität. Zum Beispiel Solidarität mit nachfolgenden Generationen – das bedeutet für viele erstmal: ‚Es kostet mich was‘. Das mag egoistisch sein, aber das ist legitim, denn es geht ja um hart erarbeitetes Geld, das da in die Zukunft investiert werden soll.

Ist ‚Zukunft‘ nicht ein unattraktiver Begriff geworden, den man eher meiden sollte?

Man muss sogar mit der Zukunft argumentieren. Auch wenn es das nicht einfacher macht. Diese Zukunft muss erreichbar und praktikabel sein. Und die Rechnung für die Ölheizung ist ganz einfach: Was kostet es mich, die noch 27 Jahre weiterzubetreiben und wie viel kriege ich gefördert vom Staat, wenn ich sie jetzt ersetze. Politik muss das erklären. Leute der Wirtschaft sind dazu nicht in der Lage, die müssen schon weiter sein, um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Bei der Landtagswahl 2019 hatte die AfD auf ihren Plakaten „Vollende die Wende!“ stehen. Auch ein gelungener Slogan aus Werbersicht?

Ich denke, diese Kampagne legte ein völlig falsches Bild von der „Wende“ zugrunde. Die Ostdeutschen werden von den Westdeutschen immer für die friedliche Revolution gefeiert, dabei stand die Mehrheit von ihnen hinter der Gardine und hat abgewartet, was passiert. Auf den Straßen war nur eine Minderheit. Die eigentliche Leistung der Ostdeutschen war es, die 1990er-Jahre durchzustehen, als die blühenden Landschaften nicht kamen, als sehr viele Leute arbeitslos waren, massenhaft in den Westen zogen, Familien traumatisiert wurden. Aber dafür wurden die Ostdeutschen als „Jammer-Ossis“ gescholten. Weil diese 90er-Jahre-Erfahrung nicht ernst genommen wurde, wirkt bis heute das Gefühl der Ostdeutschen fort, nicht gesehen, nicht für die eigene Lebensleistung anerkannt zu werden. Natürlich baut die AfD auch auf diese Frustration.

Ist die oft zitierte Resilienz, die Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen, ein Thema, mit dem eine Partei, sagen wir die SPD, Wähler mobilisieren könnte?

Darüber habe ich länger nachgedacht und inzwischen hielte ich das für einen großen Fehler, weil diese Resilienz immer gegen die Politik erworben wurde. Weil ich von ‚denen da oben‘ nichts zu erwarten hatte, musste ich mir alles selbst erarbeiten, resilient werden. Das kenne ich auch aus meiner Jugend in Frankfurt. Es gab keine Strukturen für Jugendliche, also haben wir uns selbst alternative Kulturorte geschaffen.

Es wäre also eher gefährlich in Zeiten, in denen Politiker Belastungen verantworten müssten, Bürger für ihre Belastbarkeit zu loben?

Das ist eine Unterstellung, aber das kriegt man nicht aufgehoben. Im Moment ist mein Eindruck, um Augenhöhe für einen Dialog zwischen Politik und Bürgern herzustellen, muss man was umdrehen. Es ist nicht mehr so, dass Politik von oben agiert und runterkommen muss, sondern Politik wirkt einfach überfordert und hilflos. Um Augenhöhe zum Bürger herzustellen, dazu müssen die Demokraten erstmal den Rücken gerademachen. Und im nächsten Schritt geht es darum, die Überforderungsszenarien anzuerkennen. Es wird oft floskelhaft von „multiplen Krisen“ unserer Zeit gesprochen, aber nicht zu Ende gedacht, was daraus folgt.

Man müsse sich mit der AfD inhaltlich auseinandersetzen, wird oft gefordert. Hieße das, die Politik soll auf die jüngsten „Remigrationsideen“ der AfD hin die Überforderung durch Migration diskutieren?

Der Fehler dabei ist, dass man das Problem auf dem Rücken der Geflüchteten austrägt. Eine ehrliche Debatte würde proaktiv über strukturelle Überforderung in den Kommunen sprechen, die die Menschen unterbringen und versorgen. Um gerechte Verteilung müsste es gehen und darum, wie wir sicherstellen, dass Einheimische nicht benachteiligt werden, etwa bei Kita- oder Schulplätzen – auch das gehört dazu.

Die Politik soll den Rücken gerademachen, sagten Sie. Sind Politiker heute ‚die da unten‘?

Wir betrachten Politik heute in allen gesellschaftlichen Strömungen als persönliche Dienstleistung. Politik ist aber keine Dienstleistung. Und ich bin auch allein weder als Progressiver noch als Konservativer in der Mehrheit. Politik ist der Ausgleich von Interessen über all diese Gruppen hinweg. Und dann bedeutet Politik auch noch, über die Zukunft nachzudenken. Dieses Politikverständnis muss man gegenüber Populisten auch verteidigen.

Zur Person

Mathias Richel, geb. 1981, hat als Kommunikationsberater zum Beispiel die Kampagne „Stadt der Brückenbauer:innen“ mit entworfen, mit der sich Frankfurt (Oder) 2022/23 für das Zukunftszentrum zur Deutschen Einheit des Bundes bewarb. Richel lebt in Berlin und ist Mitglied der SPD.

Die Bauern und ihr wirklicher Gegner!

OGA von 22. Februar 2024 POLITIK

Die großen Vier und die Bauern

Marktmacht

Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe haben über 75 Prozent Marktanteil im Lebensmitteleinzelhandel. Die Landwirte beschweren sich über den Preisdruck. 

Von Dominik Guggemos

Tausende Traktoren und Zehntausende Bauern auf den Straßen haben in den letzten Monaten deutlich gemacht: Es brodelt in der deutschen Landwirtschaft. Zwar war die geplante Streichung von Agrarsubventionen durch die Ampel-Koalition der Auslöser für die Wut der Bauern, aber die Unzufriedenheit sitzt deutlich tiefer. Die Landwirte beschweren sich über einen enormen Preisdruck durch den Handel. Was ist dran an den Vorwürfen gegen die großen Supermarktketten?

Wie groß ist die Marktmacht des Einzelhandels? Die „Big Four“, also Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe (Lidl und Kaufland), machen einen Marktanteil von über 75 Prozent im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) unter sich aus – zum Leidwesen vieler Bauern. „Der Preisdruck kommt ganz eindeutig aus dem LEH“, sagt Willi Kremer-Schillings dieser Zeitung. Der Landwirt war Mitglied im „Praktikernetzwerk“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums, betreibt als „Bauer Willi“ einen Blog und schreibt Bücher. Um seinen Punkt zu untermauern, macht er eine Rechnung auf: „Das Kilo Mehl kostete bei Aldi vor Corona 39 Cent, bei einem Getreidepreis von 190 Euro pro Tonne. Jetzt kostet es bei Aldi-Süd 79 Cent, bei 30 Prozent geringeren Erzeugerpreisen für die Bauern.“ Fairerweise müsse man zwar sagen, so Kremer-Schillings, dass die Mühlen längerfristige Verträge abschlössen und der LEH mit gestiegenen Energiepreisen zurechtkommen müsse. „Aber die Rohstoffpreise sollten doch einen Einfluss auf die Preise im Markt haben – zumal die Energiepreise in der Zwischenzeit ja auch wieder gesunken sind.“

Was entgegnet der Handel den Vorwürfen? Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer beim Handelsverband Deutschland (HDE), verweist auf Nachfrage darauf, dass es kaum direkte Geschäftsbeziehungen zwischen Landwirten und den Handelsunternehmen gebe. „Zudem geht bei vielen Nahrungsmitteln ein großer Anteil der Produktion aus der heimischen Landwirtschaft in den Export.“ Daher spiele der Handel bei einem großen Teil der Produkte keine Rolle bei der Entlohnung der Bauern.

Was sagt die Monopolkommission über die Marktmacht der Handelsriesen? Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat das unabhängige Beratungsgremium aufgefordert, sich die Wettbewerbssituation genauer anzuschauen. In ihrem Bericht schreibt die Monopolkommission, die Lebensmittellieferketten in Deutschland wiesen durchaus „Anzeichen von Wettbewerbsproblemen und Marktmacht“ auf. Als Gründe dafür nennt sie die langwierige Produktion in der Landwirtschaft bei eingeschränkter Planbarkeit sowie die Verderblichkeit der Waren. Lebensmittelmärkte seien „oft keine vollständig funktionierenden Wettbewerbsmärkte“.

Die Monopolkommission schreibt aber auch: „Eine hohe Marktkonzentration kann ein Indiz für Marktmacht sein, muss aber nicht zwangsläufig hierauf hindeuten.“ Die Daten­lage sei zu komplex, um endgültige Aussagen zu treffen. Deswegen empfiehlt sie auch keine sofortigen Maßnahmen, will die Lieferketten lediglich noch gründlicher untersuchen, was der Handel für sich verbucht, wie Genth betont: „Die Kommission warnt ausdrücklich vor Schnellschüssen.“

Hilft die Politik den Bauern? Wirtschaftsminister Habeck will dafür sorgen, dass die Bauern künftig eine stärkere Position bei der Bestimmung der Preise für ihre Produkte bekommen. „Das Haupt­problem der Landwirtschaft ist häufig, dass sie ihre Pro­duktions­kosten nicht weitergeben können“, sagt Habeck. Der Markt sei nicht fair. Er wolle als Wirtschaftsminister „schauen, ob man nicht die Mechanismen so überdenken kann, dass die Betriebe in die Lage versetzt werden, ihre Preise auch zu realisieren“. Welche Mechanismen Habeck dabei genau im Sinn hat, wollte sein Ministerium auf Nachfrage nicht sagen. Genth vom Handelsverband warnt bereits präventiv: Die von Habeck angedeutete Preisregulierung würde „tendenziell zu höheren Verbraucherpreisen führen, ohne aber den Erzeugern zu helfen“.

Ging es den Bauern finanziell zuletzt nicht sehr gut? Laut Bauernverband erwirtschafteten die Landwirte im Geschäftsjahr 2022/23 im Schnitt ein sattes Plus von 45 Prozent. „Ich werde in diesem Jahr 70 – aber ein Jahr wie 2022 habe ich noch nie erlebt“, sagt Kremer-Schillings. Er konnte wegen der Inflation als Reaktion auf den Ukraine-Krieg historische Erlöse erzielen – hatte aber niedrige Kosten für Dünger und Pflanzenschutz, die er noch vor Kriegsbeginn gekauft hatte. „Für 2023 wird es allerdings schon anders aussehen, denn da haben wir historisch hohe Ausgaben für Dünger – wir mussten fast das Dreifache bezahlen wie zuvor“, sagt Kremer-Schillings. Der Gewinn aus 2022 werde durch 2023 wahrscheinlich komplett aufgefressen.

Wie kommt ein Produkt vom Feld ins Supermarktmarktregal? Bei Getreide landet es zunächst in einer Genossenschaft. „Vom Landwirt geht es an die Getreidemühle, von der Mühle an den Bäcker, von dem zum Endverbraucher“, sagt Kremer-Schillings. Fleisch gäben die Bauern zu 98 Prozent an einen Schlachthof. „Davon gibt es vier große Ketten in Deutschland“, sagt er. Vom Schlachthof gehe es dann an die Verarbeiter, von denen zum Supermarkt – und von dort zum Verbraucher.

Was bringt die Ombudsstelle?

Seit Mai 2021 gibt es in Deutschland eine Ombudsstelle gegen unfaire Handelspraktiken des Lebensmitteleinzelhandels (LEH), an die sich Landwirte wenden können. Sie basiert auf einer EU-Richtlinie und soll vor dem Hintergrund von erhaltenen Meldungen eine Untersuchung einleiten und Verstöße weiterleiten dürfen. Die Namen der Informationsgeber sollen anonym bleiben. Trotzdem beklagt Willi Kremer-Schillings: „Die Schiedsstelle wird fast gar nicht genutzt, weil die Landwirte Schiss haben.“ Sie seien dem LEH ausgeliefert. „Wir sprechen schließlich von einem Oligopol.“ Der Landwirt war Mitglied im „Praktikernetzwerk“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums.