Schreitet die Verrohung der Gesellschaft voran?

OGA vom 14. März 2024 BRANDENBURG

Jeden Tag zehn schwere Körperverletzungen

Jahresbilanz

Die Gewaltkriminalität ist in Brandenburg zuletzt deutlich angestiegen, laut Polizei auf den höchsten Stand der vergangenen 15 Jahre. Was steckt dahinter? Und wer sind die Täter?

Von Bodo Baumert

Ende April 2023 in Cottbus: Zwei junge Frauen geraten in einem Fast-Food-Restaurant in Streit mit einigen jungen Männern. Erst fliegen die Worte, dann die Fäuste. Eine Frau bekommt einen Schlag ins Gesicht, geht zu Boden. Kurz darauf sind die Angreifer und das Handy der jungen Frau verschwunden.

Anfang September 2023 in Fürstenwalde: Ein Mann mit Stichverletzungen wird auf der Straße aufgegriffen. Er sagt, er sei in Streit mit drei Unbekannten geraten, die Zigaretten von ihm wollten. Dann soll einer der Männer zugestochen haben.

Innenminister beklagt eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft.

Anfang Oktober 2023 in Mühlberg: Ein 20-Jähriger wird tot in seiner Wohnung gefunden. Die Politei geht von einem Tötungsverbrechen aus. Einige Wochen später wird ein anderer Mann verhaftet. Die Polizei ermittelt.

Es sind solche und ähnliche Meldungen der Polizei, die bei Bürgern in Brandenburg zu einem Unsicherheitsgefühl führen können. Ein Unsicherheitsgefühl, das offenbar nicht völlig unbegründet ist. Das zumindest lässt sich aus den Zahlen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) herauslesen, die Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Mittwoch in Potsdam vorgestellt hat.

Bei der Gewaltkriminalität gibt es demnach einen deutlichen Anstieg für das Jahr 2023 zu verzeichnen: um über 17 Prozent. Schwere und gefährliche Körperverletzung zählen darunter, Vergewaltigungen, Raub, räuberische Erpressung, Mord und Totschlag. Zehn gefährliche oder schwere Körperverletzungen weist die Statistik pro Tag in Brandenburg aus, fast jeden Tag einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung.

Auch bei Mord und Totschlag gibt es mehr Fälle. 14 statt neun im Jahr zuvor. Ähnlich bei den Tötungsversuchen. Hier sind es fünf Fälle mehr. Das allerdings lässt sich mit statistischen Schwankungen noch recht gut erklären. Ohnehin gehen die Fälle erst dann in die Statistik ein, wenn sie aufgeklärt werden. Die beiden Morde der Statistik für 2023 sind daher eigentlich aus den Jahren 2015 und 2022.

Auch die Kriminalität insgesamt ist in Brandenburg 2023 gestiegen, um 9,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Beim Diebstahl sind es 10 Prozent mehr, beim Ladendiebstahl 30 Prozent, beim Autodiebstahl 20 Prozent, beim Einbruch 20 Prozent und bei Betrug 5 Prozent.

Die Gewaltfälle nehmen aber eine besondere Stellung ein. Denn während sonstige Straftaten meist auf das Niveau vor der Corona-Pandemie zurückkehren oder teils noch darunter liegen, nimmt die Gewalt auch im Vergleich über einen längeren Zeitraum zu. 5499 Fälle in einem Jahr – das hat es seit 15 Jahren in Brandenburg nicht mehr gegeben.

Auch im Vergleich zum Vorjahr sprechen die Zahlen im Bereich Gewalt eine deutliche Rolle. 13 Prozent mehr gefährliche und schwere Körperverletzungen, 15 Prozent mehr Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen, 30 Prozent mehr Raubüberfälle.

Innenminister Michael Stübgen sieht eine „zunehmende Verrohung der Gesellschaft“ als eine der Ursachen für den Anstieg. „Nach der kompletten Aufhebung von Corona-bedingten Einschränkungen sind die Menschen wieder mobil geworden und fanden sich in Alltagssituationen wieder, die mehr als früher auch durch wirtschaftliche Herausforderungen und soziale Unsicherheiten geprägt waren. All dies führte mutmaßlich zu mehr Tatgelegenheiten und Tatentschlüssen sowie zwischenmenschlichen Konflikten, die sich dann leider auch in der gestiegenen Zahl der Gewaltdelikte widerspiegeln“, ergänzt Polizeipräsident Oliver Stepien bei der Präsentation der Zahlen.

Andere Erklärungsmuster verfangen nicht. Auf den Zuzug von Flüchtlingen lässt sich der Anstieg der Gewalt jedenfalls nicht zurückführen. Betrachtet man die Zahlen der PKS im Detail, wird deutlich, dass die klare Mehrheit der Täter Deutsche sind. Von 314 Vergewaltigungen im Jahr 2023 gehen 28 auf das Konto von Zuwanderern. Bei Körperverletzungen sind es 1500 von 16.500 Tatverdächtigen. Die deutschen Täter sind es auch, die mehrheitlich für den Anstieg der Fallzahlen im vergangenen Jahr verantwortlich sind.

Mehr häusliche Gewalt

Minister Stübgen macht auch auf Gewalt im häuslichen Umfeld und gegen Polizeibeamte aufmerksam. Die registrierten Fälle von häuslicher Gewalt seien um gut acht Prozent auf rund 6300 gestiegen. Immer häufiger sind Kinder und Jugendliche unter den Opfern.

Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte sind laut PKS um sieben Prozent auf fast 1400 Fälle gestiegen. „Das sind mehr als drei Fälle pro Tag“, so der Minister. Stübgen will dagegen weiter vorgehen. „Bei Gewalt gibt es kein Pardon – egal gegen wen sie sich richtet oder wo sie stattfindet. Es ist unsere gesamtgesellschaftliche Pflicht und Aufgabe, entschieden gegen jegliche Formen von Gewalt einzustehen und nicht die Augen zu verschließen“, so der Minister.

Neue Studie soll Polizeistatistik ergänzen

Jedes Jahr im März legen Innenministerium und Polizei in Brandenburg die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) vor. Damit einhergehen Aussagen, wie sicher oder unsicher die Lage im Land geworden ist. Doch kann die PKS diese Frage beantworten?

Um zu verstehen, welche Aussagen man aus der Statistik ableiten kann, muss man zunächst wissen, was die PKS ist. „Bei der Polizeilichen Kriminalstatistik handelt es sich um eine sogenannte Ausgangsstatistik, welche durch die bundeseinheitliche PKS-Richtlinie geregelt wird“, erläutert eine Sprecherin des Polizeipräsidiums in Potsdam. Alle Fälle, die von der Polizei bearbeitet wurden, landen also darin. Was erfasst wird, ist für alle Bundesländer einheitlich festgelegt.

Das heißt allerdings auch: Nur die Verbrechen, von denen die Polizei etwas erfährt, können in die Ergebnisse einfließen. Längst nicht jeder Diebstahl wird aber zur Anzeige gebracht. In manchen Deliktfeldern, etwa bei Betrugsversuchen im Internet, gehen die Betroffenen so gut wie nie zur Polizei. Spam-Mails sind solch ein Fall, die täglich bei fast jedem eingehen und in denen ein Unbekannter Geld oder angebliche Glücksspielgewinne verspricht.

Hinzu kommt: Die Polizeistatistik für Brandenburg kennt nur Fälle aus Brandenburg. Ist der Tatort, also der Ort, von dem aus der Täter seine Tat begeht, hingegen unbekannt oder im Ausland, taucht der Fall in der PKS nicht auf.

Das ist etwa bei Betrugsmaschen wie Enkeltrick oder „falsche Polizisten“ der Fall. Nur bei einem Bruchteil dieser Fälle lässt sich der Tatort eindeutig in Brandenburg festmachen. Der Rest taucht nie in der PKS auf.

Politik und Polizei versuchen deshalb, die PKS durch eine sogenannte „Dunkelfeldstudie“ zu ergänzen. Diese soll aufzeigen, wie die Kriminalitätslage und das Sicherheitsempfinden aus Sicht der Bürger tatsächlich sind. 2020 ist die erste Runde dieser Studie gestartet, aktuell läuft die zweite Runde.

Skid – „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ – heißt die Studie. In den vergangenen Wochen wurden dafür bundesweit mehr als 186.000 Menschen ab 16 Jahren angeschrieben. Auch Brandenburger sind darunter. Die Teilnehmer wurden zufällig ausgewählt. Wer sich bereiterklärt, mitzumachen, bekommt nun einen Fragebogen zugeschickt.

Eine Erkenntnis der ersten Runde 2020 ist laut BKA, dass es erheblich mehr Straftaten im digitalen Raum gibt, als bisher bekannt. Analoge Verbrechen gehen hingegen langfristig zurück.

Hierauf kann die Politik reagieren, etwa indem mehr Cyberpolizisten oder Ermittler eingesetzt werden. bob

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