Wie versucht wird, die Gesellschaft zu spalten – ein Erklärungsversuch

OGA vom 12. März 2024 POLITIK

„Die Spaltung wird von oben hineingetragen“

Steffen Mau 

Es gebe nach wie vor eine breite Mitte im Land, sagt der Berliner Soziologe. Auch wenn „Polarisierungsunternehmer“ wie Hubert Aiwanger und Julian Reichelt versuchten, die Gesellschaft auseinanderzudividieren. Was die Menschen triggert – und warum das auch gute Folgen haben kann.

Von Igor Steinle

Er ist der momentan gefragteste Sozialwissenschaftler Deutschlands. Politiker zitieren Steffen Maus Thesen, unzählige Interviewanfragen erreichen ihn täglich, selbst die Bundesregierung hat ihn nach Meseberg eingeladen, um seine auf umfangreichen Datenerhebungen basierende Gesellschaftsanalyse zu hören. Weniger mondän geht es in seinem Büro in Berlin-Mitte zu: Auf dem Tisch stapeln sich Bücher, draußen rattert die S-Bahn vorbei, während Mau uns an einem dunklen Februarabend zwischen E-Mail-Arbeit und Studierendensprechstunde empfängt.

Herr Mau, Tausende Menschen gehen auf die Straße, um gegen Rechts zu demonstrieren. Ist die Demokratie in Gefahr?

Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt.

Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet.

Ich halte das eher für Übertreibung. Wir haben eine stabile Demokratie, die Demonstrationen zeigen ja, dass es eine breite gesellschaftliche Mehrheit gibt, die bereit ist, sie zu verteidigen.

Das entspricht Ihrer zentralen These, dass wir keine gespaltene Gesellschaft sind.

Hier ist eine Mehrheit sichtbar geworden, die sonst eher still ist. Die Mitte ist politisch passiv, sie bildet sich zwar ihre Meinungen, aber tritt nicht öffentlich in Erscheinung. Wir sehen auf der Straße und in den sozialen Medien sonst eher einen radikalisierten Rand, vor allem einen rechten Rand, mit sehr zugespitzten und oft extremen Positionen. Die konnten für sich reklamieren, so etwas wie eine schweigende Mehrheit zu repräsentieren. Und jetzt haben sich die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse öffentlich artikuliert.

Bisher dachte man, die gesellschaftliche Spaltung spiegele sich in der Politik wider.

Nach unseren Beobachtungen ist das nicht der Fall, die Gesellschaft ist nicht gespalten, vielmehr gibt es politische Akteure, wir nennen sie Polarisierungs­unternehmer, die Interesse daran haben, Spaltung zu erzeugen und dann zu bewirtschaften. Die Spaltung wird eher von oben in die Gesellschaft hineingetragen.

Wer sind solche Unternehmer?

Es gibt viele, in der AfD zum Beispiel. Hubert Aiwanger ist auch einer, er pflegt einen spalterischen Diskurs, indem er trennt zwischen denen mit gesundem Menschenverstand und den anderen, die keine Ahnung vom wirklichen Leben haben: die in den Großstädten gegen uns, die wir uns auf dem Land auskennen. Und natürlich gibt es sie auch im medialen Diskurs, Julian Reichelt zum Beispiel ist ein Polarisierungsunternehmer.

Sie haben Triggerpunkte der Gesellschaft ausgemacht, Themen, die sich besonders zur Polarisierung eignen. Welche sind das?

Es gibt rechte und linke Triggerpunkte, aber viel mehr rechte, weil eine gewisse Ressentimentkultur sehr stark über Trigger funktioniert. Das sind vor allem Themen, die sich leicht emotionalisieren lassen. Man kennt das aus dem eigenen Umfeld, es gibt Fragen, da kann man sich mit Freunden oder Familienmitgliedern hinsetzen und sachlich verhandeln und andere, wo man weiß, da geht dem ein oder anderen schnell die Hutschnur hoch. Gendern zum Beispiel, die Heizungsfrage, das Tempolimit, arabische Messerstecher und so weiter.

Dabei ist die Gesellschaft in den vergangenen Jahren über alle Schichten hinweg liberaler geworden. Wie passt das zusammen?

Es geht um Gleich- oder Ungleich­behandlung, wenn man das Gefühl hat, dass bestimmte Gruppen jetzt bevorzugt werden sollen. Die Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Beispiel ist in der gesamten Gesellschaft groß. Aber wenn man das Thema politisiert und sagt, Minderheiten sollen bei Einstellungen bevorzugt werden, dann gehen viele auf die Barrikaden. Auch Verhaltenszumutungen sind ein starker Trigger, zum Beispiel in der Sprache, wenn man den Leuten das Gefühl gibt, ihr müsst jetzt gender­gerecht sprechen.

Warum triggern Themen wie ungleiche Einkommensverteilung nicht?

Die Menschen glauben an Leistungsgerechtigkeit. Es herrscht die Meinung vor, dass die soziale Stellung im Großen und Ganzen nach Leistung und Talent verteilt wird. Dieser Glaube ist auch stark in der Arbeiterschaft verwurzelt, längst nicht mehr nur bei Spitzenverdienern. Reichtum wird nur dann skandalisiert, wenn man das Gefühl hat, dass er unverdient ist oder unmoralische Dinge damit gemacht werden. Der Klassenkampf findet nicht mehr zwischen oben und unten statt, sondern auf einer horizontalen Ebene, etwa zwischen Einheimischen und Geflüchteten oder Leuten im Niedriglohnsektor und Menschen mit Transfereinkommen. Das sieht man auch daran, dass die größten Vorbehalte gegen die Erhöhung des Bürgergeldes von Leuten mit kleinem Portemonnaie kommen.

Wovon hängt die Triggerbereitschaft ab?

Es sind vor allem Menschen in unteren sozialen Hierarchiepositionen, die in ihrem beruflichen Umfeld wenig Autonomie haben, sozusagen Befehlsempfänger sind, und dann im privaten Bereich Wert auf Autonomie legen. Die sagen: Ich habe in meinem beruflichen Umfeld so wenig Freiheiten, dafür will ich in meiner Freizeit grillen, was ich will, und auf der Autobahn so schnell fahren, wie ich will. Diese privaten Autonomieansprüche sind eine Art Kompensation für fehlende Autonomie im Arbeitskontext.

Sorgt nicht auch der gesellschaftliche Wandel für Überforderung?

Ja, wir nennen das Veränderungserschöpfung: Viele Leute haben das Gefühl, sie kommen nicht mehr mit. Ständig finden Umwertungsprozesse statt, man muss sich permanent umgewöhnen. Vokabular, das vor fünf Jahren noch normal war, wird plötzlich in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet. Je weiter unten man sitzt, desto mehr hat man das Gefühl, der soziale Wandel überrollt mich. Das muss man bedenken, wenn man Reformprojekte in die Gesellschaft hineinbringt.

Haben solche Triggerpunkte die Politik bereits maßgeblich beeinflusst?

Ja, das bekannteste Beispiel ist sicher Armin Laschets Lachen am Rande der Katastrophe im Ahrtal. In der alten politischen Ordnung, als es noch Stammwähler gab, hätten die das vielleicht nicht gut gefunden, aber sie wären nicht gleich zu einer anderen Partei gelaufen. Heute hat es die CDU wohl ein paar Prozentpunkte und womöglich die Kanzlerschaft gekostet. Ein global einflussreicher Trigger war die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA. Natürlich wussten die Menschen schon vorher, dass es Rassismus gibt, aber das „Ich kann nicht mehr atmen“ hatte eine so kraftvolle Symbolik, dass es weltweit mobilisiert hat. Solche Trigger sind nötig, um Menschen auf die Straße zu bringen.

Reagieren die Demos gegen rechts dann nicht auch auf einen Auslöser?

Auf jeden Fall, die Leute haben schon vorher geahnt, was die AfD im Schilde führen könnte. Die Berichterstattung über dieses Potsdamer Treffen, auch der Ereignischarakter der Veröffentlichung, hat dann aber starke emotionale Reaktionen ausgelöst und die Menschen mobilisiert.

Wenn Polarisierungsunternehmer beharrlich die Konflikte im Land beackern, steuern wir dann nicht dennoch auf eine gespaltene Gesellschaft wie in den USA zu, wo die Lager kaum noch miteinander sprechen können?

Möglicherweise. Triggerpunkte sind so etwas wie Einstiegsfenster in eine gespaltene Gesellschaft. Die allermeisten Leute haben keine Ahnung von Parteiprogrammen, sondern ein diffuses Verhältnis zur Politik und zugleich ausgeprägte Vorstellungen von richtig und falsch. Das Politische ist für sie eine Art Nebelwand. Da sitzen viele Leute in kleinen Booten, und die Polarisierungsunternehmer blinken mit ihren Triggerpunkten, die wie Positionslichter im Nebel funktionieren. Dann heißt es hier Gendern, dort Messerstecher und da Lastenfahrrad und die Boote bewegen sich dorthin, wo ihre Leute sind. Wenn sich der Nebel dann lichtet, ist die Flotte plötzlich in zwei Gruppen aufgeteilt, die ein ganzes Stück Abstand voneinander haben.

Bieten Triggerpunkte dann nicht auch Orientierung? Beispiel Gendersprache: Wenn 60 bis 80 Prozent der Menschen sagen, sie fühlen sich bevormundet, ist es dann nicht demokratisch, das aufzugreifen?

Das eine wäre, das Thema mitzubearbeiten. Das andere ist, es in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, wie es etwa der ehemalige CDU-Chef in Hamburg, Christoph Ploß, gemacht hat, der das Thema rund um die Uhr bespielte. Natürlich ist es verlockend, aus dem Kulturkampf Honig zu saugen. Aber wer solche Themen zu intensiv beackert, feuert Konflikte an, die eigentlich nachrangig sind.

Menschen lassen sich auch deshalb leicht triggern, weil sie erregbarer geworden sind. Warum ist die Republik nervös geworden?

Das hat sicher damit zu tun, dass die Leute nur eine begrenzte Verarbeitungskapazität für Veränderungen haben. Durch die Digitalisierung in der Arbeitswelt muss man sich ständig neu justieren, dann kommt die Migration, dann Corona, dann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Man kann nicht unbegrenzt viel Veränderung in einer Biografie verarbeiten. Gerade im Osten ist die Veränderungserschöpfung deshalb noch größer als in Westdeutschland. Viele Leute treten auf die Bremse und wollen an dem festhalten, was ist.

Welche Rolle spielt der Vertrauensverlust in die Institutionen?

Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität. Warum setzen wir uns ins Auto und fahren los, ohne vorher unter die Motorhaube zu schauen? Weil wir darauf vertrauen, dass die Ingenieure das Auto so konstruiert haben, dass es funktioniert. Wenn wir anfangen, unter die Motorhaube zu schauen, haben wir kein Vertrauen mehr in die Firma, die das Auto herstellt. In der Politik wird inzwischen unter die Motorhaube geschaut.

Weil der Staat oft dysfunktional erscheint?

Vor 20 Jahren ist man ins Ausland gefahren und hat gesehen, wie gut in Deutschland eigentlich alles funktioniert. Heute kommt man zurück und stellt fest, hier funktioniert immer weniger. Und damit meine ich nicht nur die Bürgerämter in Berlin. Wenn Kinder ihr eigenes Klopapier in die Schule bringen müssen oder nach einem Todesfall in der Familie wochenlang die Krematoriumsplätze ausgebucht sind, dann fallen selbst Wohlmeinende irgendwann vom Glauben ab.

Triggern bestimmte Themen Sie auch?

Absolut. Gerade Aiwanger und sein Umgang mit diesem Flugblatt, das hat mich schon extrem geärgert. Gar nicht, dass er das als Jugendlicher gemacht hat, sondern dass er so nonchalant und ohne Problembewusstsein darüber hinweggegangen ist. Das war für mich ein Trigger. Auch, weil er bei der nächsten Wahl dafür auch noch Zuspruch erhalten hat.

Was raten Sie der Politik, wie man der Spaltung entkommen kann?

Ich mache eher die sozialwissenschaftliche Analyse und keine Politikberatung im engeren Sinne. Die Schlussfolgerungen muss die Politik selbst ziehen.

Kindheit im Plattenbau

Steffen Mau (Jahrgang 1969), gebürtig aus Rostock, wuchs als Sohn einer Ärztin und eines Abteilungsleiters im Schiffbau in einem Plattenbauviertel auf. Nach einer Lehre im VEB Schiffselektronik Rostock verzichtete Mau auf den ihm zugewiesenen Studienplatz in Mathematik und Physik. Erst nach der Wende studierte er seine Wunschfächer Soziologie und Politik an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 ist er Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität.  Sein Herkunftsviertel und die ostdeutsche Transformationsgesellschaft porträtierte der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler 2017 in „Lütten Klein“. Zuletzt erschien das hoch gelobte Buch „Triggerpunkte“  bei Suhrkamp.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert